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Einheitsschule passé, aber Alternativen umstritten

Die Sachsen diskutieren ihr erstes Schulgesetz/ Lehrer und Eltern wehren sich gegen „Modelle aus der Mottenkiste“/ Schon handeln Schulbehörden nach dem konservativen CDU-Text/ Gesamtschule dürfte den Bestand der Werkrealschule, der Realschule und des Gymnasiums nicht gefährden  ■ Von Detlef Krell

Dresden (taz) — „Stadt am Hang“ wurde sie zärtlich von den örtlichen Politikergrößen genannt, die Trabantensiedlung im Westen Dresdens. 40.000 Menschen leben in Gorbitz. Sie sagen nicht Häuser, sondern „Blöcke“, nicht Wohngebiet oder Kiez, sondern „Bauabschnitt“ zu ihrem Zuhause. Kaufhallen, Supermarkt, ein paar Geschäfte, Arztstation, zwei Kneipen, das war's. Kürzlich schloß die Galerie „Brücke“ für immer. Gut voran geht der Bau des Autobahnzubringers und einiger Parkplätze. Hin und wieder krallt sich noch ein Bäumchen in den lehmigen Schutt. Die Kinder im „IV. Bauabschnitt“ spielen in Kellern, im Schlamm oder Unkraut, zwischen Containern und Autos, mit Gerümpel und Dreck.

Nah beieinander stehen in diesem Viertel zwei Schulen. Mit der Besiedlung des Westhanges der Stadt rauften sich hier nach und nach knapp 1.000 Kinder in den neuen Schulklassen zusammen. „Im Laufe des nächsten Schuljahres wird unser Sport- und Spielplatz fertig“, kündigte Schulleiter Lorenz an. „Ein Vater richtete in der Schule eine künstlerische Werkstatt ein, und wir haben noch andere Ideen, wie wir für die Kinder den ganzen Tag über Angebote schaffen können. In Gorbitz werden noch in den nächsten Jahren kleine Clubs oder ähnliches entstehen.“ Beide Schulen haben ein Konzept erarbeitet, sich als Grund- und Gesamtschule zu profilieren. „Unser Konzept wird von den Lehrern, Eltern und der Schülervertretung getragen. Wir sehen darin eine Alternative zum dreigliedrigen Schulsystem, die den Gorbitzer Bedingungen angemessen ist“, erklärte der junge Pädagoge. Ein erneuter Schulwechsel wäre nicht erforderlich, jedes Kind könnte entsprechend seinen Begabungen gefördert werden, auch die „Spätentwickler“ hätten eine Chance.

In ihrem Konzept hebt die Schule hervor, daß die Gesamtschullehrer alle Schüler fördern müssen, „ohne auf Auslesemechanismen zurückzugreifen“, sie müßten „methodisch und erzieherisch den besonderen Problemen einer heterogenen Lerngruppe gerecht werden“. Dafür hätten sie bereits Erfahrungen, „die sie in ihre zukünftige Arbeit einbringen könnten“.

Kultusministerin Stefanie Rehm verkündete im Dezember, die Einheitsschule sei endgültig passé, und sie legte einen Entwurf für das sächsische Schulgesetz vor. Darin werden dem Gorbitzer Konzept keine Chancen eingeräumt. Die Gesamtschule soll nach den Vorstellungen der CDU-Politikerin mindestens vier Züge aufweisen, und sie dürfte den Bestand der Werkrealschule, der Realschule und des Gymnasiums nicht gefährden. Was immer unter „Gefährdung“ zu verstehen ist, soll dann wohl die Schulbehörde zu entscheiden haben, aber daß vierzügige Schulen in Sachsen besonders rar bleiben werden, steht außer Zweifel. Unter dieser Regelung, die Gesamtschulen auf die Strafbank des sächsischen Schulwesens verweist, treibt jene Argumentation Blüten, die von Ministerin Rehm selbst gegen die Gesamtschulen geführt wird. Sie läßt die von der Einheitsschule gebrannten Landeskinder vor „Schulkombinaten“ erschauern, wo es „unpersönlich, leblos und kalt“ sei. Zwar möchte sie nicht unbedingt von „Drillschule“ sprechen, doch ganz auszuschließen wäre das „möglicherweise nicht“. Deshalb postuliert sie gleich die Behauptung, nicht nur Sachsen, sondern alle Bundesländer würden das gegliederte Schulsystem favorisieren, „weil es sich eigentlich doch in seiner Gesamtheit bewährt hat“. Und Landesschulrat Husemann weiß, daß „nur so“, nämlich im gegliederten Schulsystem, eine „optimale Förderung individueller Begabungen möglich“ sei.

Gegen diese populistischen Schemata begehren inzwischen viele Schulen, Initiativgruppen und auch die Eltern auf. Der Sprecher der Dresdener Initiative Gesamtschule e.V., Prof. Witlof Vollstädt, erklärt die Neigungen für das gegliederte Schulsystem mit einem „Fortleben von Auffassungen aus der Schule der DDR“. Wichtiger als ein Modellvergleich sei, die Funktion von Bildung in der Gesellschaft zu befragen. Das DDR-Bildungswesen hatte „den Menschen als wichtigste Produktivkraft im Blick, der Mensch hatte zu funktionieren“. Daraus resultierte die überzogene Wissenschaftsorientierung der Schulen, „die Heranwachsenden waren kaum an Entscheidungen über sich beteiligt“. Selbstredend sei es in der Marktwirtschaft noch wichtiger, sich als Produktivkraft zu bewähren, doch dazu gehöre die Fähigkeit, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, Konflikte zu bestehen, kooperativ zu leben. Vollstädt nennt das den „Übergang vom intellektuellen Lernen zum sozialen Lernen“, das auch eine kritische Distanz zu den Anforderungen der Gesellschaft und eine Identifikation mit kulturellen Werten zu schulen habe. Anstelle eines Abwägens von Niveaustufen brauche Sachsen die „Diskussion über pädagogische Profile“.

Unter diesem Aspekt erscheinen nicht nur die Passagen zu den Schulformen, sondern die Orientierung des Gesetzentwurfes selbst fragwürdig. Öffentliche Kritik trifft vor allem die „europäischen Traditionen des Christentums“, denen die Ideen des Humanismus und der „liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen“ nachgeordnet sind. Unter dem Primat des Christentums werden Andersdenkende, ob sie nun einer anderen oder gar keiner Religionsgemeinschaft angehören, wieder benachteiligt. So erinnert die Elternvertretung der 106. Oberschule in Dresden: „Die Forderung der Wende war doch die Abschaffung der einseitigen Weltsicht“, und die Grünen in Sachsen weisen in ihrer Studie über „Grüne Schulpolitik“ auf den Widerspruch zwischen dieser weltanschaulichen Eingleisigkeit und dem im Paragraphen 1 formulierten „Recht jedes Menschen auf eine volle Entfaltung seiner Individualität zur Gestaltung eines sinnerfüllten Lebens“ hin.

Prof. Vollstädt sieht die Chance einer nicht nur formalen, sondern inhaltlichen Profilierung der sächsischen Schulen in der Tendenz zur Zweigliedrigkeit, wie sie auch in den alten Bundesländern zu beobachten sei. Ein Glied wäre das Gymnasium, das andere ein profilierter Schultyp, worin naturwissenschaftlich-technisch, sprachlich oder musisch begabte Schüler die Mittlere Reife erlangen könnten, nach dem Muster der Sekundarstufe I oder der Gesamtschule. „Wie die Schule heißt, ist doch erst einmal egal, entscheidend ist, daß sie der Individualität der Kinder gerecht wird, statt sie zu sortieren und auch den sogenannten Spätentwicklern eine Chance bietet.“

Dieses Modell würde die bestehenden Schulstrukturen nicht im Großexperiment vernichten, sondern sie als den Boden begreifen, worin erst der Keim für eine sächsische Schullandschaft zu legen wäre, wie es der Westberliner Schuljurist Prof. Vogel im Dezember in Dresden vor mehr als 800 Pädagogen beschrieb. Damals hatte das Neue Forum zur öffentlichen Diskussion eingeladen. Mit dem Mandat der anwesenden Bürger nahm eine Enquete- Kommission die Arbeit an alternativen Vorschlägen zum sächsischen Schulgesetz auf. Kürzlich legte sie ihren Abschlußbericht vor. Ein Schulgesetz müsse „aus dem Betroffensein heraus“ geschrieben werden und nicht als Kopie, erläuterte Michael Pütz, der als Hochschuldozent aus dem Ruhrgebiet nach Chemnitz gegangen ist und sich dort für Schulen in freier Trägerschaft engagiert, die Thesen der Kommission. Nicht eine „Verordnung von Demokratie- Positionen“ demokratisiere die Schule, sondern die Beschreibung von Freiräumen, eine „dynamische und auf Verständigung angelegte Großzügigkeit“. Die von der Kommission vorgelegten Thesen greifen weit über den baden-württembergischen Verschnitt aus dem Hause Rehm hinaus. „Die Eigenständigkeit der Schulkollegien sollte sich pädagogisch und organisatorisch ausdrücken können“, heißt es darin. Nicht reglementieren soll die Schulaufsichtsbehörde, sondern „beratend zu eigenen Konzepten anregen“. Als einklagbares Recht soll die Mitwirkung der Eltern und Schüler gesichert werden. Vorsorge gegen Zwänge trifft auch das Verständnis von Trägerschaft, sie sollte „grundsätzlich bei den Gemeinden“ liegen. „Keine Schulart soll von Gesetzes wegen benachteiligt werden“, heißt es weiter, und „unliebsame Erfahrungen mit dem DDR-Schulwesen dürfen uns nicht vorschnell in Berührungsängste treiben.“ Die vom Gesetzentwurf angedrohte, pedantisch argwöhnende Schulaufsicht streicht die Enquete-Kommission brachial auf eine „Rechtsaufsicht“ zusammen, sie sollte sich mit dem Schulamt in der Gemeinde und der oberen Schulbehörde beim Ministerium begnügen. Dann geht es ans Eingemachte, den Stolz der führenden Partei, die Werkrealschule.

Als „Etikettenschwindel“ für die Hauptschule wurde diese aus Baden- Württemberg gekupferte Schulform in einem Forum der Leipziger Initiative Gesamtschule bezeichnet. Deren Sprecherin Dr. Johanna Faust stellte klar: „Die Mehrheit der sächsischen Wähler hat sich für die CDU entschieden, weil sie wirtschaftlichen Aufschwung wollte. Das heißt nicht, daß dieses Votum für das konservative Schulsystem gleich mit gilt.“ Besonders die kritiklose Übernahme der Werkrealschule, die in ihrem Ursprungsland erst seit einem Jahr als Versuch angeboten wird, handelten den Rehm-Text den Vorwurf einer baden-württembergischen Kopie ein, die den Sachsen „Modelle aus der bundesdeutschen Mottenkiste“ aufzwinge, wie es die Fraktionsstellvertreterin vom Bündnis 90/Grüne, Cornelia Matzke, vor dem Landtag beschrieb. Die Enquete-Kommission setzt dagegen auf eine „gut differenzierte Realschule“. Übergänge zu höheren Schulformen sollten nicht vor dem siebten Schuljahr erfolgen, die bisher nur als Ausnahme vorgesehene Orientierungsstufe in der fünften und sechsten Klasse wäre der Grundschule zuzuordnen.

Standen die Zeichen der Diskussion zum Schulgesetz anfangs auf Eile, im Februar sollte gar schon das Gesetz in den Landtag, so ist inzwischen, wie es der Einigungsvertrag vorsieht, vom 30. Juni die Rede. Stefanie Rehm fordert bei jeder Gelegenheit eine breit angelegte Diskussion geradezu heraus. „Erst wenn wir alle Vorschläge und Kritiken beachtet haben, wird der Entwurf verabschiedet“, auch daß sich viele Schüler beteiligen, findet sie „toll“. „Ist es nicht wunderbar, daß sich unsere Jugend so mündig zeigt?“ Inzwischen sind aber die Lehrer in Sachsen von Angst erfaßt. Der eben begonnene Dialog zwischen allen an der Erziehung Beteiligten, aber auch die aufmüpfigen Antworten auf erneutes Reglement drohen wieder von lähmendem Schweigen unter den deutschen Paukern erstickt zu werden. „Es ist erschütternd, was in den Schulen passiert“, berichtet die Sprecherin der Enquete-Kommission, die für ihre Arbeit mehr als 600 Zuschriften bekommen hat. „Die Angst ist schlimmer als früher, anstatt die Meinung zu sagen, streben viele Lehrer krampfhaft nach dem Beamtenstatus, um ihre Arbeit nicht zu verlieren.“ In der Scheu, bei den neuen Schulbürokraten anzuecken, greifen Schulen lieber nach dem zwar unausgegorenen, aber von der Regierung autorisierten Gesetzentwurf, als sich eigene Konzepte zu erarbeiten. Zur Bilanz der Enquete- Kommission und der Gesamtschulinitiativen gehört, daß von den um die Jahreswende noch 60 sächsichen Schulen, die sich als Gesamtschule profilieren wollten, inzwischen knapp 30 wieder „umgeschwenkt“ sind, Schulämter würden bereits eifrig nach dem CDU-Entwurf entscheiden. „Die Dominanz der Parteimeinungen stellt ganze Schulentwicklungen einfach in Frage. Zurück zum Kaiser und zu Bismarck“, kommentiert bitter der aus dem Ruhrgebiet nach Sachsen ausgewanderte Michael Pütz.

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