: Verantwortungslosigkeit der ÖTV
■ Professoren fordern: 8% mehr Lohn — 2% für Wessis und 6% für Ossis! DOKUMENTATION
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat angesichts der sich verschlechternden Arbeits- und Lebensbedingungen in den neuen Bundesländern zu Recht die Forderung erhoben, daß wir das Teilen lernen müssen. Gemessen daran erscheinen viele ökonomische, politische und soziale Aktivitäten oft konzeptionslos, finanziell unzureichend und wirken wie die inzwischen lästig gewordenen Brosamen aus dem überquellenden Wohlstandshorn. Der ursprünglich starke Solidaritätsgedanke erlahmt, und die Aufbruchstimmung der Menschen in den neuen Ländern droht wie ein Sturmzeichen in Resignation oder virulente Aggression umzuschlagen.
Wir fordern deshalb die öffentlichen Arbeitgeber und die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes zu einem alternativen Solidaritätsvertrag für den öffentlichen Dienst mit der Leitlinie auf:
„8% mehr Lohn — 2% für Wessis und 6% für Ossis.“
Wir mahnen einen solchen Solidaritätsvertrag mit folgenden Überlegungen an:
— Die von den Ministerpräsidenten Ostdeutschlands erhobenen zusätzlichen Forderungen (50-100 Milliarden DM jährlich) sind angemessen und wohlbegründet;
— die Bundesregierung, die westdeutschen Länder und Gemeinden sind bisher weit hinter ihren ökonomischen, finanziellen und sozialen Handlungsmöglichkeiten zurückgeblieben. Deshalb erscheinen auch Steuererhöhungen für Unternehmen und Arbeitnehmer gleichermaßen als unentrinnbare und notwendige Konsequenzen;
— die Tarifparteien des öffentlichen Dienstes aber betreiben eine Vogel- Strauß-Politik — bezeichnenderweise in getrennten Verhandlungen für Ost und West —, als ob die deutsche Einheit mit den Tarifverhandlungen nichts zu tun hätte.
Wer im Westen der Republik über 10%-Forderungen der Gewerkschaften und des Beamtenbundes verhandelt und die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands mit 35% der Gehälter des westlichen öffentlichen Dienstes deklassiert, wer über westliche Solidaritätsbeiträge nur in Steuer- und Subventionskategorien denkt, wer Arbeits- und Lebensbedingungen angleichen will, aber in Wahrheit die Ost-West-Schere weiter öffnet, der muß sich dem Vorwurf der tarifpolitischen Verantwortungslosigkeit ausgesetzt sehen.
Die ÖTV-Parole „Kein Anlaß für Vereinigungsopfer“ ist genauso gedankenlos und diskriminierend wie viele Sozialhilfe-Eingruppierungen im öffentlichen Dienst-Ost qua Einigungsvertrag. Die öffentlichen Arbeitgeber und die Gewerkschaften handeln als stille Komplizen für die Verteidigung der westlichen Tarif- Wagenburg; beide wohl bedacht, eine öffentliche Diskussion über das, worum es für die Menschen in Ost- Deutschland gehen könnte, erst überhaupt nicht entstehen zu lassen.
Wir sind uns bewußt, daß ein solcher alternativer Solidaritätsvertrag für die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes eine zwar zumutbare, aber schwer verkraftbare Handlungsalternative darstellt. Sie können für sich zu Recht reklamieren, daß
— ihre Erwartungen aus der letzten Tarifrunde, Lohnzurückhaltung, Arbeitszeitverkürzung und Schaffung neuer Arbeitsplätze sinnvoll zu verbinden, nicht honoriert worden sind; — die öffentlichen Arbeitgeber kaum Neueinstellungen vorgenommen haben;
— die Lohn- und Gehaltssteigerungen der vergangenen Jahre weit hinter denjenigen in der Wirtschaft zurückgeblieben sind und von daher die Parole „Jetzt Cash“ sehr verständlich erscheint.
Wir sind uns auch bewußt, daß die Anspannung der öffentlichen Haushalte den öffentlichen Arbeitgebern enge Grenzen des Handelns setzt. Daß jedoch der Golfkrieg und nicht die deutsch-deutsche Einheit Steuerdebatten auslösen kann, gehört zum absoluten Tiefpunkt des Vereinigungsprozesses.
Trotzdem plädieren wir für einen alternativen Solidaritätsvertrag, der gleichermaßen die öffentlichen Arbeitgeber zu einem zusätzlichen Solidaritätsbeitrag verpflichtet wie dem öffentlichen Dienst West eine zumutbare Solidarleistung abverlangt. Ein Leuchtzeichen der Solidarität ist von denjenigen gefordert, die komfortable Wohnungen, neue Autos und 6 mal Österreich als Besitzstand haben gegenüber denjenigen, die Farbe für heruntergekommene Wohnungen, den ersten Gebrauchtwagen und erstmals im Leben drei Tage Paris bezahlen wollen.
Ein neuer Typus von Tarifvertrag steht an, der Einkommenserhöhungen und neue Arbeitsplätze dorthin abgesichert transferiert, wo sie in dieser deutsch-deutschen Situation auch hingehören.
Alternativer Solidaritätsvertrag
Konkret fordern wir:
1. Die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst werden ab sofort gemeinsam geführt, um die tarifvertraglichen Möglichkeiten für die Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse ausschöpfen zu können.
2. Die Regelung, nach der die öffentlichen Bediensteten in den neuen Bundesländern nur 35% der Löhne und Gehälter erhalten, wird aufgehoben. Nach der Umstrukturierung der öffentlichen Dienste in den neuen Bundesländern werden die Löhne und Gehälter stufenweise um 35% zum 1. Januar 1992 und um 30% zum 1. Januar 1993 angehoben. Die Tarifparteien verpflichten sich, in der nächsten Tarifrunde dazu einen konstruktiven Beitrag zu leisten.
3. Die öffentlichen Bediensteten der alten Bundesländer erhalten 8% mehr Lohn und Gehalt. Real erhalten sie annähernd den Inflationsausgleich von 2% und geben 6% zur Erhöhung der Einkommen und für neue Arbeitsplätze an die Beschäftigten in Ostdeutschland ab. Bei einem unterstellten „normalen“ Tarifabschluß von 5% leisten daher die öffentlichen Arbeitgeber für den alternativen Solidaritätsvertrag 3% Über- Soll, und die Beschäftigten selbst verzichten auf 3% und geben diese Beträge an den öffentlichen Dienst Ost ab. Damit wird eine breite Anschubfinanzierung von etwa 13 bis 16 Milliarden DM erreicht. Der volle Einbezug der Beamten — und eines spezifischen Solidarbeitrags der Beamten des höheren Dienstes von 2% — soll zusätzlich drei Milliarden DM für die 1,7 Millionen Beschäftigten in Ostdeutschland umschichten. Eine etwa hälftige Aufteilung in „Verbesserung der Einkommen“ und der „Schaffung neuer Arbeitsplätze“ (Ökologie, Infrastrukturdienstleistungen, soziale Einrichtungen, Kultur etc.) bewirkt allein Lohnzuwächse von 10 bis 15% und ungefähr 100.000 bis 200.000 neue Arbeitsplätze. Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt ein Jahr.
4. Für diesen neuen Typus von Solidaritätsvertrag setzen die Tarifparteien eine viertelparitätische Transfer-Kommission von öffentlichen Arbeitgebern (Ost/West) und Gewerkschaften (Ost/West) ein, die den Tarifvertrag umsetzt. Die Transfer-Kommission treibt also einerseits — möglicherweise in Anlehnung an den Fonds zur Deutschen Einheit — von Bund, Ländern und Gemeinden die Solidaritätsbeiträge ein und vergibt nach den Anforderungen aus den neuen Ländern und Gemeinden Einkommenserhöhungen und Zuweisungen für neue Arbeitsplätze.
5. Öffentliche, halböffentliche und private Institutionen, die ihre Beschäftigten in Anlehnung an die Tarifverträge im öffentlichen Dienst bezahlen (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Stiftungen etc.) werden aufgefordert, der Richtung nach vergleichbare Solidaritätsverträge zu praktizieren.
Es ist an der Zeit, mit der Illusion aufzuräumen, die Einheit sei mit einer Anhebung von ein paar Prozentpunkten einer Steuer, mit wenigen Subventionsstreichungen oder einer Arbeitsmarkt- oder Ergänzungsabgabe für Besserverdienende allein zu finanzieren.
Die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst muß deshalb auch ein solidarisches Leuchtzeichen setzen!
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