: Thüringen: „Gummi-Duchac“ weggetaucht
Sozialdemokraten und Gewerkschafter üben scharfe Kritik an der wirtschaftspolitischen Untätigkeit der Landesregierung/ Die von Arbeitslosigkeit bedrohten Belegschaften reagieren erstmals mit Betriebsbesetzungen in Erfurt/ Treuhand unter Beschuß ■ Aus Erfurt K.-P. Klingelschmitt
„Gummi-Duchac red' kein Blech — sonst sind die Diäten wech!“ Der Zorn der Massen, die am Mittwoch vor dem thüringischen Landtag gegen die ökonomische Misere des neuen Bundeslandes und die damit verbundene drohende Massenarbeitslosigkeit protestierten, richtete sich auch gegen den amtierenden Ministerpräsidenten und Ex-Betriebsleiter der Gummiwerke Waltershausen, Josef Duchac (CDU). Gnadenlos pfiffen die rund 50.000 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter den Christdemokraten aus, der mit Chuzpe die Demonstration als „Unterstützung für den Kampf der Landesregierung in Bonn um bessere finanzielle Bedingungen für Thüringen“ werten wollte. Die „lieben Thüringer“, so der Ministerpräsident, hatten die Nase voll von den frommen Sprüchen des guten Mannes aus Gotha. „Der Landtag schläft — den Alptraum haben wir!“ Mit diesem Transparent waren Metaller aus Eisenach vor dem Landtag aufmarschiert.
Am Vormittag, während der Debatte zur Lage der thüringischen Industrie im Erfurter Landtag, saß Duchac, der sich bislang, so der Spott der oppositionellen Sozialdemokraten, immer hinter den breiten Rücken seiner Amtskollegen Kurt Biedenkopf und Manfred Stolpe verstecke, wie ein Häuflein Elend auf der Regierungsbank. Der Sozialdemokrat Frieder Lippmann geißelte da im Plenum die wirtschaftspolitische Untätigkeit des CDU/FDP-Kabinetts — „während im ganzen Land die Industriebetriebe reihenweise zusammenbrechen“. Die Menschen in Thüringen würden Zeugen der „Hilf- und Sprachlosigkeit“ sowohl der Landes- als auch der Bundesregierung. Daß der Einführung der D-Mark und der freien Marktwirtschaft auf dem Gebiet der Ex-DDR — wie von der Bundesregierung prognostiziert — automatisch ein Investitionsschub folge, sei ein ebenso „umfassender wie folgenschwerer Irrtum“ gewesen. Die westdeutschen Betriebe schöpften nämlich lieber die eigenen Kapazitäten voll aus, als Investitionen in den Ostländern zu tätigen.
In Thüringen sei der Wirtschaftskreislauf vollständig zusammengebrochen, die Infrastrukturen lägen am Boden und die technische Substanz der Produktionsmittel tendiere gegen Null. Und in dieser „absolut verfahrenen Situation“ regiere die Treuhand — ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen — nach dem Motto „liquidieren statt sanieren“. Lippmann forderte die umgehende Einrichtung eines Landeswirtschaftsrates und die Erstellung eines Strukturentwicklungsplans. Zeitgleich müsse die Treuhand vom Bundeswirtschaftsministerium übernommen und die noch lebensfähigen Betriebe konsequent entschuldet werden. Den Landesregierungen im Osten müsse ein Vetorecht gegen Entscheidungen der Treuhand zugestanden werden. Und in dieser katastrophalen Situation dürften auch Subventionen für thüringer Industriebetriebe kein Tabu mehr sein. Bundesbürgschaften für den darniederliegenden Osthandel seien ohnehin das „Gebot der Stunde“. Sozial- ökologische Konflikte von bislang ungekannten Ausmaßen bahnten sich an: „Und Ministerpräsident Duchac ist weggetaucht“.
Die regierenden Christdemokraten warfen Lippmann danach „Kassandra-Rufe und Panikmache“ vor. Das Erbe vierzigjähriger „Kommandowirtschaft“ sei nicht in vier Monaten zu bewältigen. Noch immer geistere „zentralistisches Denken“ durch die Köpfe der Menschen und verhindere den „Durchbruch der freien Marktwirtschaft“, meinte der CDU-Abgeordnete Möbus. Allerdings forderten auch die Sprecher der Union eine Änderung der Politik der Treuhand: Abrupte Betriebsstillegungen seien zu vermeiden und regionale Gesichtspunkte bei der Beurteilung von Betrieben stärker zu berücksichtigen.
Der christdemokratische Koalitionspartner FDP war da in seiner Beurteilung der bisherigen „Leistungen“ der Treuhand im Lande Thüringen weniger zimperlich. Die Treuhand, so FDP-Sprecher Bohn, sei das „letzte große Kombinat der DDR“ und müsse wie jedes ehemalige DDR-Kombinat „abgewickelt und regionalisiert“ werden. Mit der Liquidierung von Arbeitsplätzen werde von der Treuhand Wirtschaftspolitik im negativen Sinne betrieben. Und deshalb, so das Fazit des FDPlers, müsse die Treuhand „raus aus den Klauen von Bundesfinanzminister Waigel.“
Als drinnen im Landtag der Abgeordnete Olaf Möller von den Grünen/ Neues Forum/Demokratie Jetzt die „absolute Konturlosigkeit“ der Wirtschaftspolitik der Regierung Duchac verurteilte, sammelten sich draußen vor dem ehemaligen Haus der Bezirksverwaltung die Werktätigen der von der Stillegung bedrohten Industriebetriebe Simson in Suhl, Carl-Zeiß in Jena und AWE in Eisenach zur Protestkundgebung. Von Hundertschaften der Polizei aus Hessen und Bayern hatte Duchac zu seinem und der Abgeordneten Schutz den Landtag umstellen lassen — doch die Metaller hatten nicht einmal faule Eier für die „faule Regierung Duchac“ (SPD) dabei. In einer „Erfurter Erklärung“ verlangten die Protestierenden von der Landesregierung Garantien dafür, daß die thüringer Metallindustrie „nicht zu verlängerten Werkbänken westlicher Unternehmer herabgestuft“ werde. Thüringen dürfe nicht zum „Armenhaus der Nation“ werden.
Bei den desillusionierten Werktätigen des Landes wächst die Bereitschaft zu „begrenzten Regelverletzungen“ im Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze, wie das am Mittwoch ein Jungmetaller gekonnt formulierte. Gestern mit der Fühschicht besetzten ArbeiterInnen die Ermic- GmbH in Erfurt, die von der Treuhand verwaltet wird. In dem ehemaligen VEB-Mikroelektronik sollen viertausend der knapp siebentausend Beschäftigten entlassen werden — damit die Treuhand einen Käufer für den Betrieb findet.
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