Sonntagsausflug in Brandenburg

■ Auf einer Allee setzt plötzlich ein Auto zum Überholen an — von vorne kommt auch eins

Mit der großen Freiheit kam die scheinbare Freiheit auf den Straßen in der ehemaligen DDR. Nach dem Fall der Mauer und mit der zunehmenden Lockerung der Grenzbestimmungen begannen sich die bis dahin so ruhigen und idyllischen Landstraßen um Berlin zu bevölkern. Die jahrzehntelang eingemauerten Westberliner entdeckten, einschließlich der sogenannten Szene, was bei Vatern als völlig verpönt galt: den Sonntagsausflug in die wald- und seenreiche Mark Brandenburg.

Ein glühend heißer Sommersonntag im August letzten Jahres. Seit gut vier Wochen wird an den innerdeutschen Grenzen nicht mehr kontrolliert. Von der ehemaligen Frontstadt aus kann man sich ungehindert in jede Richtung bewegen, ohne lästige Grenzformalitäten. Ein Sonntag in einer Schönwetterperiode wie aus dem Bilderbuch, kein Wölkchen am Himmel, das Thermometer soll wieder auf über 30 Grad klettern. Ein Sonntag wie geschaffen dafür, an einen der zahllosen Seen in der Nähe Berlins zu fahren und dem Dolce vita zu fröhnen. Leider ein Sonntag, an dem ich laut Dienstplan dazu verdonnert bin, in den stickigen Redaktionsräumen in der Kochstraße das Sommerloch zu füllen — das schöne Wetter wird nur für andere stattfinden. Mit denkbar schlechter Laune begebe ich mich in die spannendste Zeitung der Stadt — um dort jedoch festzustellen, daß die Besetzung längst nicht so dünn ist wie befürchtet. Ein Hoffnungsschimmer: Ich könnte doch heute wirklich die schon mehrfach verschobene Recherche in einem verschlafenen Nest namens Ziegenhals, im Südosten von Berlin gelegen, in die Tat umsetzen. Dort gibt es eine Ernst-Thälmann-Gedenkstätte, direkt am Wasser gelegen, die von der Auflösung bedroht ist. Mein »Chef vom Dienst« ist schnell überzeugt, ich schwinge mich ins Auto eines Kollegen.

Alles klappt bestens, in Ziegenhals treffe ich das Faktotum an, das das Museum aufgebaut hat, und trinke mit ihm Kaffee auf einer herrlichen Terrasse fast direkt am See — der Tag ist gerettet. Rückfahrt auf einer dieser wundervollen brandenburgischen Alleen, der Landstraße von Wernsdorf nach Königs Wusterhausen. In Gedanken bin ich bei meinem Artikel. Zwei Wagen vor mir schert jemand nach links aus, um zu überholen. Die von Pappeln gesäumte Straße ist schmal, aber kerzengerade und übersichtlich. Immer noch etwas abwesend, denkt »es« in mir, das geht doch nicht, da kommt doch einer entgegen... Nur Bruchteile von Sekunden später ein ohrenbetäubender Knall, Explosion, Feuer. Das überholende Westauto — mit Ostkennzeichen — hat sich in den entgegenkommenden Wagen geschraubt. Mit Pudding in den Knien bringe ich meinen Wagen am Rand zwischen zwei Alleebäumen zum Stehen, andere Fahrzeuge halten. Die beiden Autos brennen lichterloh, kaum vorstellbar, daß man noch jemand retten kann. Die Zeit, bis Feuerwehr und Polizei kommen, ist unwirklich, nicht meßbar in regulären Zeiteinheiten. Es ist alles zu spät, aus dem einen, dem überholten Wagen, werden drei verbrannte Kinder gezogen. Der Fahrer des überholenden wird schwer verletzt abtransportiert. Ewigkeiten. Nach mehr als zehn Jahren im Besitz eines Führerscheins und reichlich Fahrpraxis habe ich zum ersten Mal einen tödlichen Unfall hautnah gesehen. Zeugenaussage. Nach zwei Stunden kann ich endlich zurückfahren, aber kann ich fahren? Ich erinnere mich an Erzählungen, man müsse sofort weiterfahren, sonst könne man nie mehr ein Auto steuern. In mir ist alles aus Stein, ich fahre wie in der ersten Fahrstunde. Neben der Straße liegen die Menschen an den Seen, die Sonne brennt. Die Welt liegt hinter einer Nebelwand, aber irgendwann komme ich in Kreuzberg an. Einem Kollegen fällt auf, daß ich so seltsam aussehe... Mir wird endlich schlecht, wenigstens der Magen schafft sich Erleichterung, jemand fährt mich nach Hause.

Der nächste Sommer kommt bestimmt. Kordula Doerfler