: Balten und Sowjets erstmals an einem Tisch
■ Diskussionsveranstaltung zwischen »Komitee freies Baltikum« und dem sowjetischen Botschaftsrat aus Ost-Berlin/ Müssen die Balten die Demokratie lernen wie die Ostler das (West-)Autofahren?/ Streit über Volksabstimmung in den baltischen Ländern
Mitte. Der sowjetische Botschaftsrat Loginow meinte, ein gutes Beispiel gefunden zu haben. Die Litauer, sagte er bei einer Veranstaltung des »Komitee Freies Baltikum« am Wochenende im Haus der sowjetischen Kultur und Wissenschaft, gehen mit der Perestroika um, wie die Ostdeutschen mit ihren neuen Westautos. Nicht gewöhnt an die vielen PS, produzieren die ehemaligen Trabi-Besitzer einen Unfall nach dem anderen, riskieren ihr Leben und das anderer. Statt maßvoll die neue politische Freiheit innerhalb der Union auszuprobieren, drückten sie ständig auf die Tube, mißachteten sie alle Verkehrsregeln und machten daher schlimme Fehler. Und nicht nur die Litauer, meinte Loginow, verhalten sich unklug, sondern auch die Letten und Esten.
Das war der Auftakt zu einem zweieinhalbstündigen turbulenten, engagiert geführten Dialog. Seit Wochen stehen die Mitglieder des »Komitees Freies Baltikum« jeden Abend mit Transparenten und Kerzen vor der Außenstelle der sowjetischen Botschaft Unter den Linden und mahnen die Respektierung der baltischen Selbständigkeit an. Dutzende von Protestschreiben über die Menschenrechtsverletzungen in den baltischen Staaten wurden den Botschaftssekretären überreicht — ob sie nach Moskau weitergeleitet werden, weiß keiner. Die Kreuze, in Erinnerung an die Toten von Vilnius und Riga vor der Botschaft aufgestellt, verschwinden auf mysteriöse Weise: Bisher war es eine stumme Konfrontation, jetzt saßen die Kontrahenten sich zum ersten Mal gegenüber. Drei Wochen, nachdem die Litauer bei einer Volksbefragung zu über 90 Prozent auf ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion pochten, und drei Tage bevor die Letten und Esten das gleiche tun. Eine Volksbefragung, die von Moskau nicht anerkannt wird, denn sie lief außerhalb des von Gorbatschow initiierten Referendums, an dem die Unionsstaaten — und dazu gehören laut Moskau die baltischen Staaten immer noch — am 17. März darüber abstimmen, daß sie innerhalb »einer erneuerten Förderation« bleiben wollen. Eine Abstimmung, an der sich aus naheliegenden Gründen die Balten nicht beteiligen werden.
Und deshalb kam Loginows Vergleich gar nicht gut an. Man wolle nicht ein bißchen von Moskau erlaubte republikanische Freiheit innerhalb der sowjetischen Förderation, sagte der Litauer Richard Wollenhaupt vom »Komitee«, sondern endlich die politische Unabhängigkeit anerkannt haben. Die Balten könnten auch nicht abstimmen, ob sie innerhalb einer erneuerten Förderation bleiben wollen, denn rechtlich gesehen gehörten sie niemals zum sowjetischen Staatenverband. Die Länder wurden wenige Monate nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der Roten Armee besetzt.
Die Litauer, sagte Wollenhaupt weiter, könnten mit ihrer Demokratie sehr gut umgehen, aber die Sowjets würden sie ständig mit Füßen treten, würden durch Intervention und Terror versuchen, das Land zu destabilisieren. Und vehement ergänzte eine Zuhörerin: Nicht die Litauer, sondern die Sowjets wüßten nicht mit dem Automobil »Freiheit« umzugehen. Sie und nicht die Balten würden permanent versuchen, das Steuer in Richtung Abgrund zu reißen.
Loginow dagegen befürchtete »Chaos« in den Ostseestaaten und warnte vor einem möglichen »Bürgerkrieg und einer neuen Berliner Mauer zwischen dem Baltikum und der Sowjetunion«. Die baltischen Staaten seien wirtschaftlich auf den Handel mit der Sowjetunion angewiesen, nichts spräche gegen eine mit der Sowjetunion gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik. Die Gehversuche bei Demokratie und Marktwirtschaft müßten gemeinsam erlernt werden. Zudem würden über ein Drittel der litauischen Bevölkerung russischer Nationalität sein, daher befürchte die Sowjetunion eine Diskriminierung dieser Menschen.
»Das sei Unsinn«, fuhr ein Zuhörer dem Botschaftssekretär über den Mund. Auch die russische Bevölkerung habe in der Volksabstimmung für die Unabhängigkeit gestimmt, und die Berichte über die angebliche Diskriminierung von Minderheiten seien durchweg »erlogen«. Und: Wie könne man Demokratie von der UdSSR lernen, wo Armee, KGB, Polizei und Gorbatschow alleine herrschen würden. Denn: »Nur in Notstandszeiten ist es möglich, ein Präsidialsystem einzuführen«, sagte Wollenhaupt und der Korrespont der 'Iswestija‘ ergänzte, daß man gründlich genug habe von »starken Männern«. Langfristig, sagte er, wird die Sowjetunion sich damit abfinden müssen, daß die baltischen Staaten die Förderation verlassen werden.
Gott sei Dank, beendete eine Zuhörerin den Abend, ist der Golfkrieg zu Ende. Jetzt könnten endlich wieder baltische Probleme beachtet werden. Anita Kugler
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