: Eine offenstehende Tür eintreten-betr.: "Die Relativität der Zivilisation" von Mathias Bröckers", taz vom 22.2.91
betr.: „Die Relativität der Zivilisation“ von Mathias Bröckers,
taz vom 22.2.91
[...] Duerrs Kritik der Zivilisationstheorie von Elias hat gewiß eine Menge Verdienste, nur — sie ist keine Kritik von Elias' Zivilisationstheorie. Anders nämlich als Duerr immer wieder unterstellt, wird in dieser Theorie nirgendwo im Ernst behauptet, es hätte in früheren Zeiten den Menschen ohne zivilisatorische Selbstzwänge gegeben. Oder den Menschen ohne Schamgrenze (was in diesem Zusammenhang dasselbe besagt). Worauf es Elias ankam, war der strukturelle Wandel der Schamgrenzen, nicht der Urknall von Scham. So ist es nur konsequent, wenn Elias zum Beispiel in einem längeren Aufsatz einen „Schub“ des Zivilisationsprozesses bei den RömerInnen der Antike untersucht hat und wenn sein bekanntester Schüler Johan Doudsblom die Domestizierung des Feuers vor mehr als 200.000 Jahren(!) als einen „Zivilisationsprozeß“ eigener Art beschrieben hat — beides vor Erscheinen von Duerrs „Mythos“! Originalzitat aus Über den Prozeß der Zivilisation von 1939: „Der Mensch ohne Restriktionen ist ein Phantom.“ Dieser Satz könnte von Duerr selber stammen. Was dieser über 1.000 Seiten lang tut, ist also im wesentlichen: eine offene Tür eintreten.
Wenn Duerr bei der Kritik einzelner Quelleninterpretationen einige Pluspunkte sammeln kann, dann wäre das nur zu natürlich — nach 50 Jahren, in denen die historische Erforschung des Alltagslebens Fortschritte gemacht hat! Allerdings geht er selbst mit seinen Quellen und Belegen in einer Weise um, die gerade nicht vertrauenerweckend ist. So erwähnt er selbst den zärtlich-intensiven Umgang vieler afrikanischer Mütter mit den Geschlechtsorganen ihrer Säuglinge und glaubt dabei allen Ernstes, dem Gegenbeispiel dadurch begegnen zu können, indem er der anstößigen Tatsache eine feministische Erklärung hinzufügt. Die tut aber nichts zur Sache. Die in der Männerherrschaft begründeten Ursachen, die Duerr dabei bemüht, gab und gibt es fast überall — das heißt: Sie erklären hier nicht und sie erklären vor allem die Tatsachen nicht weg!
Um ein anderes seiner schönen Beispiele zu erwähnen: Daß manche antiken Sportler ihre Penisvorhaut wie einen Wurstzipfel mit einer Art Bindfaden zusammenschnürten, bestätigt eher Elias' These von der Verschiebung der Schamgrenzen. Ob es zugleich die anders gelagerte These Duerrs von der Universalität der Scham beweist, ist dagegen ziemlich zweifelhaft. Gleiches gilt für etliche andere von Duerrs „Bindfaden-“ und „Phantomkleid“-Belegen, die viel eher die Schaulust des Lesers und die Spielfreude an paradoxen Argumenten befriedigen. Artur Bogner, Bielefeld
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