„Wenn du Kurde bist, bist du hier verloren“

Hunderttausende geflüchtete und vertriebene Kurden leben in Istanbuler Ghettos/ Polizeigewahrsam ist in der Türkei Synonym für Folter  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

In Örnektepe, einem Außenbezirk Istanbuls, sind die ärmlichen Behausungen des Slums auf einem alten osmanisch-jüdischen Friedhof errichtet worden. Aus Grabsteinen mit hebräischen und spanischen Inschriften ist der Treppenaufgang zu einer Baracke gemauert.

Die Juden wurden Ende des 15. Jahrhunderts aus dem christlichen Spanien Ferdinand II. vertrieben und fanden hier in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches Zuflucht. Heute leben kaum noch Juden in Istanbul. Doch der ehemalige Friedhof von Örnektepe ist heute noch eine Asylstätte.

Armut, staatlicher Terror und Vertreibung hat Hunderttausende Kurden nach Istanbul geführt. Kurden, die aus der Provinz Tunceli stammen, ließen sich hier in Örnektepe nieder. Örnektepe ist ein Ghetto. Eines der zahlreichen kurdischen Ghettos in Istanbul.

Inmitten der unasphaltierten Wege und des Schlamms findet sich ein kleiner Kinderspielplatz. Hunderte Menschen aus der Nachbarschaft haben sich um einen Sarg versammelt. Die kurdischen Frauen in ihren traditionellen bunten Kleidern weinen und singen kurdische Trauerlieder. Zwei junge Männer ziehen eine Frau vom Sarg weg. Sie schreit: „Ez bimirim“ — „Laßt mich sterben“. Der zwanzigjährige Hilfsarbeiter Ali Riza Aydogan soll beerdigt werden.

Trauer und Wut in den Augen einer jungen Frau. Die 19jährige Hatice Matur, die als Arzthelferin in Karlsruhe arbeitet, ist nach Bekanntwerden der schrecklichen Nachricht vom Tod ihres Verlobten sofort nach Istanbul gereist. Die Heirat — sie sollte in Deutschland stattfinden — stand unmittelbar bevor. Hatice bewahrt die Fassung. Sie spricht leise, aber bestimmt: „Die Polizei hat ihn gefoltert und anschließend umgebracht. Wenn du ein Kurde bist, bist du verloren hier. Deshalb ist er gestorben.“

Aydogan verließ am 13. Februar die elterliche Wohnung um zu einem Fußballspiel zu gehen. Noch am gleichen Abend erhält der Vater Munzur Aydogan einen Anruf aus dem Taksim-Krankenhaus. Sein Sohn Ali Riza liegt im Koma. Die Polizei nahm bei einer Ausweiskontrolle Ali Riza fest und brachte ihn auf die Polizeiwache Beyoglu. Er sei verhört worden, sagt die Polizei. Während eines Gangs zur Toilette habe er sich losgerissen und sei vom 3. Stock der Polizeiwache auf die Straße gesprungen. Aydogan stirbt im Krankenhaus ohne je wieder zu Bewußtsein gekommen zu sein. Einen Tag nach dem Fenstersturz sucht die Rechtsanwältin Senay Gün die Staatsanwaltschaft auf. „Der Staatsanwalt Naim Öztürk wollte meinen Antrag auf Ermittlung wegen Folter nicht annehmen. Er schmiß mich aus seinem Zimmer raus. ,Dies ist ein normaler Selbstmord, die Ermittlungen sind abgeschlossen‘, sagte er,“ berichtet die Anwältin. Doch die Beweise sind erdrückend. Als der Fall zum Politikum wird und zahlreiche Rechtsanwälte und Abgeordnete sich des Falles annehmen, ist die Staatsanwaltschaft gezwungen, eine Autopsie bei der Gerichtsmedizin anzuordnen.

„An den Fußgelenken, Zehen und Armen stellten wir typische Folterspuren von Elektroschocks fest“, sagt die Ärztin im Taksim Krankenhaus, die Aydogan behandelte. Sowohl in den Gutachten des Krankenhauses, als auch bei der Autopsie der Gerichtsmedizin, bei der auch Rechtsanwälte anwesend sind, werden die Folterspuren protokolliert.

Die Polizeiwache Beyoglu im Zentrum von Istanbul ist eine normale Wache mit normalen Polizisten. Nicht die berüchtigten Folterer der politischen Polizei haben Aydogan verhört. Die Folter ist nicht das Privileg der politischen Gefangenen, auch wenn die politischen Abteilungen verfeinerte Foltermethoden anwenden. Allein binnen der letzten zwei Monate verließen sechs gesunde Menschen, die festgenommen wurden, die Polizeiwachen als Leichen.

Zum Beispiel der 18jährige Idris Can, der festgenommen und beschuldigt wurde, aus einem Garten ein kleines, marmornes Becken gestohlen zu haben. „Gehirnblutungen“ lautet die offizielle Todesursache. Daß Angehörige verbotener, linker Organisationen gefoltert werden, ist sozusagen Selbstverständlichkeit. Am 11. Februar stellte sich Erol Özbolat in Begleitung seiner Anwälte den Behörden in Ankara. Der Polizeigewahrsam ist in der Türkei Synonym für Folter. 15 Tage ist die gesetzlich zugelassene Höchstdauer des Polizeigewahrsams, währenddessen der Inhaftierte keinen Anwalt und keinen Richter zu Gesicht bekommt. Obwohl am vergangenen Dienstag die zugelassenen 15 Tage verstrichen waren, verweigert der Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes Ankara, Nusret Demiral, den Anwälten ihren Mandanten zu sehen. Daß Özbolat in den Folterzentren der politischen Polizei gefoltert wird, ist für jedermann ein offenes Geheimnis. Doch das Staatssicherheitsgericht in Ankara und das Zentrum der politischen Polizei sind ein Staat im Staate — abseits der Gesetzesparagraphen.

Die Ratifizierung der Europäischen Antifolterkonvention am 25. Februar 1988 durch die Türkei: Ein Hohn. „Die Menschenwürde wird die Folter besiegen“ skandieren die wenigen Hundert Menschen, die mit dem Sarg Ali Rizas in den Friedhof Sütlüce einziehen. Mehrere Hundertschaften Einsatzpolizei haben sie eingekesselt. Um die Trauergemeinde sind Sondereinsatztruppen, die ihre Maschinenpistolen im Anschlag halten, postiert. Der Einsatleiter droht mit Räumung, falls nicht unmittelbar das Skandieren von Parolen unterbleibt. Selbst nach Morden hat der Staat das Schweigen verordnet. Die Trauernden gehorchen dem polizeilichen Befehl. Der Mann neben mir neigt den Kopf nach unten. „Wir sind die Kinder der Vertriebenen von Tunceli. Sie haben schon 1937 Bomben auf unsere Dörfer geworfen, um den kurdischen Aufstand niederzuschlagen. Sie haben uns aus unserer Heimat hierher in die Fremde vertrieben. Weil in Ali Rizas Personalausweis als Geburtsort Tunceli stand, ist er bei der Folter so hart rangenommen worden. Weil er Kurde ist, ist er umgebracht worden.“