: „Kein Etikettenschwindel“
■ Ein Gespräch mit Historikern vom Ostberliner Institut für deutsche Geschichte in der taz-Serie „Gespräche mit Evaluierten & Evaluierenden“
Wolfgang Küttler studierte 1954 bis 1958 Geschichte und Lateinische Philologie an der Universität Jena; bis 1964 war er wissenschaftlicher Assistent am historischen Institut der Uni Jena; 1966 A-Promotion; seit 1967 am Ostberliner Institut für deutsche Geschichte und seit 1974 Leiter des Wissenschaftsbereiches „Geschichte und Methodologie der Geschichtswissenschaft“; 1976 B-Promotion (Habilitation) „Lenin-Formationsanalyse für Rußland vor 1945“; 1978 Ernennung zum Professor; seit Oktober 1990 Direktor des Instituts für deutsche Geschichte.
Peter Hübner studierte 1965 bis 1972 Geschichte und Soziologie an der Universität Leipzig und arbeitet seit 1972 im Institut für deutsche Geschichte; 1972 A-Promotion „Soziale und politische Veränderungen in der Arbeiterklasse der DDR 1949 bis 1955“; 1988 B-Promotion „Soziale Interessen im Arbeiteralltag der Übergangsperiode — Fallstudien zur Sozialgeschichte der Arbeiterklasse in der DDR“; seit Oktober 1990 stellvertretender Direktor des Instituts für deutsche Geschichte.
taz: Sie bemühen sich gegenwärtig sehr um eine Resonanz in den Medien. Wo drückt der Schuh?
Wolfgang Küttler: In einem Treffen mit der Koordinierungs- und Abwicklungsstelle der Akakademie und Institutsdirektoren Ende Januar 1991 wurde uns mitgeteilt, daß die Übergangsfinanzierung, die uns gegenwärtig stützt, spätestens mit dem 31. Dezember 1991 auslaufen wird. Außerdem werden sich die finanziellen Verhältnisse allgemein dramatisch verschlechtern, so daß die Forschungssubstanz insgesamt bedroht ist.
Wann war die Evaluierung und wer evaluierte?
Küttler: Am 8. und 9. Oktober 1990 unter der Leitung von Jürgen Kocka der FU Berlin. Dabei waren neben Vertretern anderer Fächer — die Kommission besuchte vier Institute — der Historiker Christian Meier (München), Gerhard A. Ritter (München) und Hermann Weber (Mannheim) sowie ein DDR-Historiker. Wir hatten den Eindruck einer sehr sachkundigen und fairen Diskussion über unsere Projekte. Die Evaluationsrunde hat auf Titel und Themen gesehen und nicht auf Personen.
Wenn auch noch kein verbindliches Ergebnis vorliegt, so ist doch wahrscheinlich, daß einige der von uns vorgeschlagenen Projekte positiv eingestuft werden. Aber das bedeutet noch nicht, daß sie auch finanziert werden.
Was sind das für Projekte?
Peter Hübner: Wir haben zur Evaluation insgesamt 25 Projekte angeboten, darunter unter anderem Regesten über Urkunden und Briefe Friedrich II., Frauenalltag in der spätmittelalterlichen Stadt, reformationsgeschichtliche Forschungen, Verhältnis von Bürgertum und Staat in Brandenburg-Preußen, Österreich und Sachsen, Edition der Protokolle des preußischen Staatsministeriums von 1817 bis 1934. Diese Gruppierung stellt eine strukturelle Säule unseres Instituts dar, eine zweite ist die zeitgeschichtliche mit den Vorhaben Sozialpolitik, Mentalitäten, Sozialisations- und Alltagserfahrungen seit 1918.
Dem ist beigefügt eine Sozialgeschichte deutscher Industriearbeiter in der sowjetisch-besetzten Zone, kurz SBZ, und DDR mit dem regionalen Schwerpunkt der Lausitz. Für die Zeit des Nationalsozialimus und des Zweiten Weltkrieges haben wir drei Projekte angeboten: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg mit dem Schwerpunkt Geschichte der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Das zweite Projekt beinhaltet Forschungen zur Geschichte der nationalsozialistischen Okkupation und das dritte zum deutschen Widerstand.
Außerdem gibt es noch den Schwerpunkt Deutschland unter alliierter Verwaltung, ein sehr interessantes Projekt zur sowjetischen Besatzungspolitik. Des weiteren ein Projekt für die Zeit ab 1949: „Politische Machtverhältnisse und gesellschaftliche Konflikte in der DDR“. Weitergeführt werden sollten auch unsere Traditionsunternehmen wie die Jahresberichte für Deutsche Geschichte, die Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, die Alexander-von-Humboldt-Forschung und volkskundlich-kulturgeschichtliche Forschungen, ergänzt durch das „Alltagsleben von Werktätigen, Angestellten und Funktionären in der SBZ und in der DDR“.
Welche von den alten Projekten, abgesehen davon, daß einige unter einem neuen Namen in Ihrer Aufzählung auftauchen, wurden nicht zur Evaluierung vorgeschlagen?
Hübner: Aus allen Forschungsgruppen sind Projekte bzw. Teilprojekte nicht mehr aufgeführt, so auch die ausstehenden Bände der „Deutschen Geschichte“. Wir haben mit den 25 Projekten versucht, ein griffiges, konkurrenzfähiges und gestrafftes Angebot zu machen.
Küttler: Unsere Forschungsschwerpunkte waren auf eine durchgehende Klassengeschichte von Bourgeoisie und Bürgertum im Sinne der alten Erbe- und Traditionskonzeption und in einer ganz besonderen Weise auf die Geschichte der DDR orientiert. Einige Projekte wurden neu begonnen, besonders auf dem Gebiet der Zeitgeschichte, wo aus bekannten Gründen die größten Einschnitte nötig waren. Damit sind Alltagsgeschichte, Kultur- und Lebensweise usw. gemeint.
Wir arbeiteten in drei Schwerpunkten: deutsche Geschichte, Neuansätze in der Zeitgeschichte und Traditionsunternehmen wie Editionen und Bibliografien. Das Institut hat also eine Struktur, die nicht mit der neuen Wissenschaftsstruktur kompatibel ist. Es war überzentralisiert, überbesetzt und hatte nach der Akademiereform 1969 wie die anderen geisteswissenschaftlichen Institute auch zuviele, ganz verschiedene Zweigdisziplinen vereint. Eine Weiterführung des Instituts in diesem Rahmen wird von der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats nicht empfohlen. Das ist auch nicht mehr realistisch.
Wenn man sich die Projektformulierungen anschaut, klingt das alles sehr interessant, aber im Grunde arbeiten die gleichen Historiker an dem gleichen Projekt nur unter einem anderen Titel weiter. Früher hieß das Projekt „Das imperialistische Kapital in der Zeit des Faschismus“, heute „Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Faschismus“. Was hier geschieht, ist doch Etikettenschwindel. Das trifft auch für die SBZ-Forschung zu, früher unter dem gefälligen Titel „Geschichte der sowjetischen Militärverwaltung und die besondere Rolle der Roten Armee“ angesiedelt.
Hübner: Ganz so einfach ist das nicht. Wir haben in unserem Institut drei Projektgruppierungen, wobei neben der stabilen Traditionsforschung vor allem Neuansätze zu finden sind, von denen wir hoffen, daß sie in die universitäre Forschung Eingang finden können.
Die dritte Gruppe sind in der Tat auslaufende Projekte. Es ging uns um die berechtigte Fortführung, notwendige Veränderung und Neuformierung von Forschungsgruppen, nicht um Etikettenschwindel. Wir haben schon 1989 versucht, die bisherige Struktur des Instituts zu verändern, also Wissenschaftsbereiche in Projektgruppen umzuwandeln. Das ist 1990 weitestgehend geschehen. Was wirklich neu ist, sind die Forschungsvorhaben, die die SBZ- Zeit zum Inhalt haben. Dazu wurden bisher keine Forschungen gemacht, die auch gar nicht möglich waren. Wir hatten keinen Zugang zu den entsprechenden deutschen und sowjetischen Archiven. Wer zur Besatzungspolitik forschen will, muß mindestens ins Moskauer Archiv fahren. Das wurde uns erst im vergangenen Jahr erlaubt. Deshalb haben wir uns sofort für dieses Thema entschieden. Und wie lange das noch möglich sein wird, hängt auch von der Entwicklung in der Sowjetunion ab.
Jedenfalls sind wir jetzt in der Lage, einige wesentliche Aussagen korrigieren zu können, die bisher in der DDR-Literatur zur sowjetischen Besatzungspolitik herumgeisterten. Auf der anderen Seite stimmt es schon, daß gerade in der DDR-Geschichte ein Standardgeschichtsbild verbreitet wurde, das fast keine innovativen Impulse enthielt. Trotzdem gab es auch eine sehr solide und empirische Forschung, die allerdings zum größten Teil nicht publiziert oder in Publikationen ziemlich verbogen wurde.
Jetzt soll das Institut aufgelöst werden. Gibt es Vorstellungen, wie eine organisierte, sinnvolle Auflösung mit der Neustrukturierung der Geschichtswissenschaft in anderen Einrichtungen oder solchen, die noch geschaffen werden müssen, einhergeht?
Hübner: Über die Hälfte unserer 25 Projekte vertragen einen Transfer an die Universität. Wir möchten die bestehenden Projektgruppen möglichst zusammenhalten, darin stimmen wir auch mit der Evaluierungskommission überein. Aber ob das durchgesetzt werden kann, ist offen, weil die Rechnung ohne den Wirt gemacht wurde. Wir sehen ein Auseinanderdriften des Evaluationsprozesses zwischen den ehemaligen Akademieinstituten und den Universitäten. Die Sache wird inkompatibel.
Die Universitäten müssen ja auch abspecken ...
Küttler: Das ist zur Zeit wirklich ein Problem und hängt auch mit den Fragen der Umstrukturierung und selbstkritischen Neubestimmung der Fachbereiche zusammen. Obwohl wir wissen, daß es keine neuen Automatismen und zentralen Regelungen
geben darf, darf man diesen Prozeß nicht dem Selbstlauf einer föderalen Kultur- und Wissenschaftsstruktur überlassen. Das wäre das Aus für wertvolle Forschungsansätze der Geistes- und Sozialwissenschaften in der ehemaligen DDR. Deshalb müssen Bund und Länder Übergangslösungen schaffen, mit denen der Wettbewerb erhalten bleibt. Wenn überhaupt Chancen geboten werden sollen, muß zweierlei klar sein: Wir müssen erstens ähnlich wie Wissenschaftler der Universitäten eine faire Chance erhalten, an dieser Neugestaltung mitzuwirken. Zweitens müssen auch außeruniversitäre Möglichkeiten des Übergangs geschaffen werden, also gewisse Zentren mit einer durchmischten Personalstruktur, bestehend aus östlichen und westlichen Wissenschaftlern, in denen Forschungsaufgaben der Akademieinstitute befristet weitergeführt werden könnten. Das könnte beispielsweise eine Forschungsstelle für Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Brandenburg-Preußens und ein mögliches Zentrum für zeitgeschichtliche Studien sein. Ohne ähnliche Übergangslösungen wird es schwer sein. Es wird wohl darauf hinauslaufen, daß sowohl die Evaluierten als auch die Evaluierer um den Erhalt eines Restbestandes ringen müssen, weil die Bedingungen sehr schwierig sind. Ich sehe den Alarmzustand in diesem Jahr auf uns zukommen.
Gibt es konkrete Möglichkeiten für einzelne Teile des Instituts, sich mit anderen Institutionen zusammenzutun?
Küttler: Innerhalb der Akademie ist das nicht sinnvoll. Es wäre weit im Vorfeld der Evaluierung nützlich gewesen, über die Institutsgrenzen hinaus neue Strukturierungen durchzuführen. Aber wir waren mit unserer alten Besetzung nicht in der Lage, klar Schiff zu machen — weder die Akademie noch die Universitäten, aus Existenzängsten, und auch aus inhaltlichen Vorbehalten. Es wurden zwar Auseinandersetzungen geführt, aber Selbsterneuerung unter Existenzdruck ist immer schwierig. Diese Existenzangst führte auch zu einer Abschottung zu den benachbarten Instituten und dieser zu uns. Nun geht es darum, mit bestehenden Einrichtungen in West-Berlin und in der alten Bundesrepublik zusammenzuarbeiten, neue Kontakte zu knüpfen, wo neue Universitäten gegründet oder alte umstrukturiert werden. Wir haben den neuen Bundesländern ein Angebot gemacht.
Hübner: Das Problem der Übergangslösungen wird sehr akut wer-
den. Hier bietet sich die Gelegenheit, aus der Not eine Tugend zu machen und den interdisziplinären Ansatz von vornherein zu konzipieren. Die Gefahr besteht jedoch darin, daß aus dem ehemaligen Konzept eines Zusammenwachsens beider deutscher Wissenschaftslandschaften auf der östlichen Seite ein Wasserfall entsteht. Wir nähern uns der Kante. Deshalb müssen dringend Entscheidungen getroffen werden, das nachgewiesenermaßen tragfähige Forschungspotential zu retten.
Aber wenn man sieht, wieviel Leute bei Ihnen an einem Projekt gearbeitet haben, ist das mit westlichen Maßstäben gemessen viel zuviel Personal. Das wird sich ändern, der Arbeitsaufwand steigt. Sind die Menschen, besonders wenn sie älter sind, noch in der Lage, sich umzugewöhnen?
Küttler: Das ist ein ernstes Problem. Es gibt auch eine Demotivierung, die zweierlei Gründe hat. Einmal eine gewisse Verzweiflung, gegen eine Gummiwand zu rennen, wo sich immer weniger Perspektiven bieten. Zum anderen ein In-sich-Zusammensinken nach der alten Norm, eine Zentralbehörde wird's schon richten. Wir haben wirklich an einer überbesetzten und nichteffektiven Struktur gelitten. Das hatte zur Folge, daß hoffnungsvolle jüngere Wissenschaftler zwischen 25 und 40 jetzt schlechtere Startbedingungen haben als gleichaltrige aus den alten Bundesländern. Ich denke an Publikationen und Qualifikationen. Es fehlt oft die Habilitation, die Grundlage für eine Bewerbung. Dazu kommt ein Rückstand in internationalen Kontakten. Privilegien hatten nur Reisekader. Dadurch gibt es einen großen Produktivitätsrückstand. Andererseits gibt es einen Kern von Wissenschaftlern, die trotz erschwerter Bedingungen sehr gute Arbeit geleistet haben. Was die Publikationen unseres Instituts betreffen, waren wir gar nicht so schlecht, aber gemessen an der Mitarbeiterzahl natürlich zuwenig. Bei uns mußte sich niemand um staatliche Förderung und Rahmenbedingungen kümmern, so daß Kollegen aus dem Westen oft zu uns sagten: „Ihr lebt wie im Schlaraffenland!“ Andererseits haben wir auch unter vorsintflutlichen Ausstattungsbedingungen gearbeitet.
Sie kennen die Vorgabe der Koordinierungs- und Abwicklungsstelle der Akademie, den Mitarbeiterstab auf 30 Prozent runterzuschrauben.
Küttler: So hart das ist, wir wären glücklich, wenn es wirklich 30 Prozent am Ende sind.Gespräch: Bärbel Petersen
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