: Requiem auf den Sowjetstaat
Acht Republiken der UdSSR unterzeichneten den letzten Entwurf eines neuen Unionsvertrages Jeder kann beitreten — der Austritt ist etwas schwieriger/ Unklare Kompetenzverteilung bleibt ■ Aus Moskau Klaus-H. Donath
Noch 12 Tage...noch 11 Tage bis zum Referendum“, zählt eine konservative Postille täglich auf ihrer Frontseite zum Countdown. Gerade so, als könnte sich die Sowjetunion mit dem geplanten Allunionsreferendum am 17. März aller Sorgen auf einmal entledigen. Der Glaube an die Allmacht administrativer Maßnahmen und an die Überzeugungskraft propagandistischer Selbstinszenierung ist im orthodoxen Umfeld der KPdSU noch ungebrochen. Glaube kann Berge versetzen. Aber eben nicht in der Sowjetunion. Selbst unter den Befürwortern einer erneuerten Union gibt es nur wenige, denen dämmert, daß der 17. März kein zweiter Nikolaustag wird. Gehen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten zur Abstimmung — kommt die Moskauer Zentrale bestenfalls mit einem blauen Auge davon. Volle Zustimmung zu einer Neuauflage der Union ließe sich daraus nur unter Aufbietung aller Sophisten des Landes ablesen. Einer, der das frühzeitig gemerkt hat, ist der Präsident der Republik Kasachstan, Nasarbajew. Wenn jetzt ein neuer Entwurf des Unionsvertrages in Moskau unterzeichnet wurde, ist es sein Verdienst. Er drängte Gorbatschow, indem er dem Zentrum „unzulässige Trägheit“ vorhielt, Mitte Februar, die ins Stocken geratenen Verhandlungen um den Vertrag schnellstens voranzutreiben, um wenigstens die Republiken einzubinden, die sich bisher nicht völlig abgeneigt zeigten. Unterzeichnet haben jetzt die Russische Föderation (RSFSR), die Ukraine, Weißrußland, Kasachstan und die zentralasiatischen Republiken Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisien. Ebenfalls von der Partie sind 18 der 20 autonomen Republiken des Landes. Kein geringer Erfolg, denn insgesamt verfügen diese Republiken über 90 Prozent des sowjetischen Industriepotentials. Wäre es nach Gorbatschow gegangen, der nicht einsehen will, daß seine machiavellistischen Fähigkeiten nur noch in den Verliesen der Partei Wirkung zeigen, würde die Sache anders stehen. Unter Berufung auf die Verfassung und mit Hilfe des Referendums, das eine mögliche neue Union in Aussicht stellt, wollte der Präsident die jetzige staatliche Struktur konservieren. Diesen Blankoscheck wollten die Republiken ihm jedoch nicht ausstellen.
Nach dem neuen Entwurf wird das Abkommen „Vertrag der Union souveräner Staaten“ heißen. Alternativ dazu auch „Unionsvertrag“. Die Union wird beschrieben als ein souveräner, föderaler und demokratischer Staat, der auf dem freiwilligen Zusammenschluß gleichberechtigter Republiken fußt. Der Schlußstein des Dokuments sei das Bekenntnis zum Primat der Rechte des Individuums. Von nun ab erhalten die Republiken den Status vollwertiger Mitglieder der Weltstaatengemeinschaft. Damit können sie auch ihre eigene Außenpolitik unabhängig vom Zentrum betreiben, solange es die Belange der UdSSR nicht verletzt. Hier hat sich etwas bewegt seit dem letzten Entwurf. Faktisch vollzieht es aber nur nach, was bereits Gang und Gäbe ist. An das Zentrum delegieren die Einzelrepubliken die Wahrnehmung der Landesverteidigung, der nationalen Sicherheit und die Kontrolle über den Rüstungssektor und die Weltraumforschung. Ebenfalls in die Kompetenz Moskaus fällt die allgemeine Außenpolitik und internationale wirtschaftspolitische Entscheidungen. Anders als im ersten Entwurf wird den Republiken ein Anteil an den Gold- und Diamantvorräten sowie an den Geldreserven der Union zugestanden. Land und Rohstoffe gehen ebenfalls in ihren Besitz über. „Mit Ausnahme des an die Union delegierten Eigentums“, heißt es im Vertrag. Das kann noch Probleme schaffen, denn es wird nicht ausgewiesen, was genau darunter zu verstehen ist und welcher Stichtag da eigentlich gilt. Streitigkeiten untereinander sollen vom Verfassungsgericht der UdSSR geschlichtet werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen