Kabinett entscheidet über Ost-Besitz

■ Heute verabschiedet die Bundesregierung den Jahreswirtschaftsbericht/ Sanierungsauftrag für die Treuhand wird verstärkt/ 22 Milliarden im „Gemeinschaftswerk Aufschung-Ost“ zusammengefaßt

Bonn/Berlin (taz/ap/dpa) — Taktisch gesehen, ist Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann derzeit in einer günstigen Situation: Heute wird das Bundeskabinett den Jahreswirtschaftsbericht beschließen. Der Entwurf soll sowohl im Streit um die Hauptaufgabe der Treuhandanstalt (Sanieren oder Privatisieren) als auch im Streit um die Eigentumsregelung (Entschädigen oder Zurückgeben) Akzente setzen.

An der genauen Beschreibung der Treuhand-Aufgaben wird bis zuletzt gearbeitet, um eine konsensfähige Formulierung zu erreichen. Treuhand-Chef Rohwedder kündigte gestern vor dem Treuhandausschuß des Bundestages bereits an, in Übereinstimmung mit der Bundesregierung künftig mehr darauf zu achten, daß die vorhandene industrielle Struktur im Osten bewahrt werde. Bei der Behandlung enteigneten Besitzes ist derzeit in Bonn von „Handlungsbedarf“ die Rede, auf den sich das Kabinett einigen soll. Weil bislang die Rückgabe dieses Besitzes eindeutige Rechtslage ist, ist hier der Streit auch am größten — vor allem innerhalb der FDP, der sowohl Wirtschaftsminister Möllemann als auch sein Gegenspieler Justizminister Kinkel angehören. Kinkel sieht eine riesige Ausgabenflut auf den Bund zukommen, falls die Entschädigung Vorrang bekommen soll.

Dafür hat sich, aus pragmatischen Gründen, auch der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums ausgesprochen. In einem Gutachten, das am Donnerstag veröffentlicht wurde, begründet das Gremium dies mit dem „überragenden Gemeinschaftsinteresse, den Wirtschaftskreislauf in der früheren DDR wieder in Gang zu bringen. Eine Entschädigungslösung solle aus Gleichbehandlungsgründen dann auch die Enteignungen aus der Zeit zwischen 1945 und 1949 umfassen. Der geltende Grundsatz der Privatisierung blockiere diese und sei für die Treuhandanstalt eine „außerordentliche Erschwernis“. Mittlerweile seien mehr als eine Million Anträge auf Rückgabe von 1,5 Millionen Objekten gestellt.

Auch der frühere Verfassungsrichter Martin Hirsch bezeichnete die verfassungsrechtlichen Bedenken Kinkels als nicht nachvollziehbar. Der 'Neuen Presse/Express‘ in Halle sagte er, unter die unerträgliche Rechtsunsicherheit müsse ein harter Schlußstrich gezogen werden. Die Entschädigung nach Einheitswerten würde zwar sehr teuer, aber es sei auch der größte Fehler der Bundesregierung gewesen zu behaupten, die Einheit gebe es zum Nulltarif.

Zugleich mit dem Jahreswirtschaftsbericht geht das „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost“ durch das Kabinett, in dem die Bundesregierung die 22 Milliarden Mark Hilfsgelder für die neuen Länder zusammengefaßt hat. Der Wirtschaftsbericht selbst sickert traditionell immer ein paar Tage vorher zur 'Süddeutschen Zeitung‘ durch. Die konnte deswegen schon am Montag berichten, daß für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von real zweieinhalb bis drei Prozent zu erwarten ist — jedenfalls im Westen, denn für den Osten gibt es noch kein hinreichendes Datenmaterial. Bevor noch die Steuererhöhungen beschlossen waren, hatte die Regierung mit einem halben Prozent mehr gerechnet. Die Zahl der ostdeutschen Arbeitslosen soll auf 1,1 bis 1,4 Millionen steigen. Wirtschaftsstaatssekretär Otto Schlecht sagte mutig, im schlimmsten Fall werde es bis Jahresende in den neuen Ländern zwei Millionen Arbeitslose geben — alles andere seien „Horrorzahlen“. diba