piwik no script img

Inferno als Ort des Gelächters

Der VfB Stuttgart erhält im eigenen Neckarstadion von den Münchner Bayern eine klatschende 0:3-Backpfeife und seine schwäbischen Fans stürzen aus ihren Träumen in einen grausigen Alptraum  ■ Aus Stuttgart Peter Unfried

Wegen dramaturgischer Mängel fiel Christoph Daums Premiereninszenierung der „Göttlichen Komödie“ VfB gegen Bayern durch. Das Inferno als Ort des Gelächters — kein Zweifel, Dante winkt tatsächlich von vorne herüber, hält aber, bewegend zu sehen, plötzlich inne im Winken: Denn die unterste Hölle, wo der Widerruf der Genesis praktiziert wird, ist auch von der frömmsten Komödie nicht mehr erreichbar.

Oder doch? Jedenfalls war es so: Kögl kögelte auf links erst Grahammer, dann den Pflügler Hans, dann die anderen acht Bayern aus und schoß hernach dem Aumann durch die Hosenträger. Dann lief Schwaben-Guido, der Tennishallenbesitzer und Futuro-Madrilene, dem Augenthaler davon, überschlug sich dreimal und traf dann per seitlich gesprungenem Guglhupf genau ins Tordreieck. Und zu guter letzt knallte Kalle Allgöwer einen Freistoß aus hundert Metern (es mögen auch ein Paar mehr gewesen sein!) am geschlagenen Bayern-Aumann vorbei unter die Latte.

So oder in leichten Variationen träumten es Millionen von Schwaben in der Nacht vom Freitag zum Samstag. Was heißt träumten, sie erfuhren es, hatten einfach dieses größtmöglich-denkbare Moment des Orgiastischen im Leben eines Menschen vorweggenommen. Am Samstagnachmittag zogen jene dann gen Neckarstadion, oder besser: Die Stoffe, diese Ergebnisse geronnenen, wirklichkeitsbestimmten und erfahrungsgesättigten Denkens gingen aus, ihre Sprache zu suchen und haben sie an einem Ort gefunden, wo das abstrakte Denken konkret wird, weil das Ich die Logik des Systems durch die „leidenschaftliche Innerlichkeit“ des Existierenden überwindet.

Dieser „Ort“ ist das Stadion, die „Logik des Systems“ ein Bayernsieg, und die „leidenschaftliche Innerlichkeit“ brannte, von einigen üblen Renegaten abgesehen, 67.500fach in den versammelten Individuen: Im Stadionsprecher, der sich der „Sieben gegen Dortmund“ erinnernd, ein „Fünfe würden uns reichen!“ hinauskrähte; im Polizeihubschrauber, der aufgeregt in einer Höhe von hundert Metern über dem Tor von Eike Immel kreiste; im Publikum, das Schaum-vor-dem-Munde-geifernd „keine Bayernschweine“ wollte.

Und als Stefan Effenberg statt wegen Entgegennahme einer roten Karte, aufgrund einer beschützenden Maßnahme von Trainer Heynckes das Feld verließ, schmissen die Zuschauer einem kollektiven Infarkt nahe, alles was nicht niet- und nagelfest war diesem Bayernteufel um die Ohren. Sie hätten noch mehr getan, wenn sie seiner habhaft geworden wären. Wie Dürrenmatt, so wählt auch der Zuschauer, der mithin keiner ist, sondern der eigentliche Hauptdarsteller seiner persönlichen Inszenierung, die Groteske um Mord und Hinrichtung, Apokalypse und Höllenfahrt als ein Spektakel vorzuführen, dem zuzuschauen bedeutet: Hier wird etwas gespielt, das wortwörtlich zum Totlachen ist.

Atemberaubende Duelle, mitreißende Sprints, Hakeleien, Kampf mit erlaubten und unerlaubten Tricks, ein packendes Hin und Her und viel, viel Entertainment — das alles gab es auch. Allerdings nur im Kabinengang und in den Katakomben der Spielstätte, wo die taktisch klug agierenden Nachwuchstalente vom Pay-TV den harten, aber doch in die Jahre gekommenen ZDF-Recken Töpperwien und Ploog sowie dem Rest der coolen Gang zeigten, was eine Harke ist. Hier endlich kam die schwerfällige Farce auf Touren.

Daß zuvor biedere Buben eine Zeit lang einen Ball hin- und hergeschoben haben, ist nur ein langweiliges „außerdem“. Nur das Gefühl des Sieges zählt, nichts anderes. Dessen Anlaß mag der Ball im Netz sein, seine Ursachen liegen längst anderswo begründet.

In der Nacht von Samstag zu Sonntag hatten Millionen Schwaben einen Alptraum: Der Bayern-Kapitän Augenthaler schneller als der Wind, umkurvte die VfB-Truppe wie Slalomstangen, die Rastellis Kohler und Pflügler spielen Allgöwer und Buchwald ohne Unterlaß den Ball durch die Beine, Roland Wohlfarth schoß Tor um Tor. Und im Sportstudio pöbelte eine Frau Daum, daß es ihr verdammt schwer gefallen sei, zu den Schwaben zu ziehen. Worauf der freundliche Herr Kürten beifällig zustimmt: „Das kann man auch verstehen!“

„Das haben wir uns alles ganz anders vorgestellt.“ (Christoph Daum).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen