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Halle — Schlafen mit der Giftgasbombe

Vor den Toren schlummern die Überreste einer Giftmischerei/ Eine Altlast die für Hallenser zum Alp werden kann  ■ Von Konrad Potthoff

Halle (taz) — Jeden Morgen schaukelt ein Rettungswagen des Samariterbundes übers unwegsame Gelände, und abends rollt er dann wieder von dannen. In den Stunden stehen Sanitäter bereit, um im Notfall eine Gruppe von Arbeitern zu retten, die einen Zaun ziehen. Denn allein schon das Setzen von Pfählen könnte tödlich sein.

Das ganze spielt sich auf dem Gelände von 'Orgacid‘ ab, einem der größten Chemiewaffenproduzenten von 1938 bis 1945. Noch 1944 verließen 816 Waggons mit Sprühbehältern, Fliegerbomben und Artilleriemunition das Werk. Das diese Waffen nicht eingesetzt wurden, hatte nichts mit moralischem Skrupel der Nazis zu tun. Churchill soll gedroht haben, im Zweifelsfalle Gleiches mit Gleichem zu vergelten, die Allierten verfügten zu diesem Zeitpunkt über die Lufthoheit. Dann kamen die Amerikaner und mit ihnen verschwanden nach Aussagen von Zeitzeugen die Dokumentation, einige Wissenschaftler und ausgewählte Apparaturen. Die Rote Armee sprengte einige der Gebäude.

Der reale Sozialismus brachte es schließlich fertig, die Überbleibsel der Giftmischerei unter einem Mantel aus Kies und Erde zu begraben, in der Hoffnung, daß das unliebsame Erbe nicht all zu sehr gen Himmel stinken würde.

Dennoch, es stank! Nach der Wende setzte ein lauter Medienrummel ein: 'Orgacid‘ wird endlich entsorgt. Doch inzwischen ist es wieder still um die Geschichte geworden, der Grund ist der gleiche wie im realen Sozialismus — das Geld fehlt. Es reicht gerade einmal, um diesen Zaun zu ziehen. Und nun, liebe BürgerInnen, vergeßt alles. Vor allem aber die kursierenden Güchte, daß im betreffenden Areal rund einhundert Fässer mit Giftgas liegen sollen, die einst von der SS versteckt und „gesichert“ wurden. Die Stasi soll danach gesucht haben, vielleicht sollten ehemalige Mitarbeiter befragt und neben Politikerakten auch Akten von solchen Leuten sichten. Ohne manchen Politikern Unrecht antun zu wollen, die von ihnen fürs Gemeinwesen ausgehende Gefahr dürfte wohl unter der von Giftfässern rangieren.

Die Fakten: Überall im Gelände gibt es Stellen, an denen Gas austritt. Fünfundvierzig Jahre genügten nicht, daß über die Sache Gras hätte wachsen können. Die vier Grundkomponentenbunker wurden in den fünfziger Jahren vermauert, doch deren Wände waren schon damals defekt, der Bunkerinhalt sickerte in die Umgebung. Diese Bunker sind bis heute nicht wieder aufgefunden worden. Ihr Standort — vergessen. Aus einem der Bunker, der angeblich 1953/54 restlos entsorgt worden sein soll, wurden 1990 25 Tonnen Wasser-Kampfstoffgemisch geborgen. Wohin die unterirdischen Gänge und Rohrleitungen führen, ist unbekannt. Die Anlage ist nicht planmäßig abgefahren worden. Wieviel Senfgas sich noch im Rohrsystem befindet, darüber können nur Vermutungen angestellt werden. Und wo befindet sich der Abwasserkanal, der unterirdisch zur Elster führt? Was für eine giftige Brühe irgendwo dort in den ohnehin stinkenden Fluß sickert, der ein paar hundert Meter weiter in die Saale mündet, wagt keiner zu sagen. Und die Saale... Halle grüßt Hamburg! Was verbirgt sich unter dem Beton, den man überall im Gelände antrifft? Wo wurden die Bomben und Granaten abgefüllt? 1954 wurden 100 bis 120 Tonnen Schwefelyperite gefunden, aber nur 66,5 Tonnen geborgen. Wo lagert der Rest?

Wie unerfreulich das alles. Laßt uns einen Zaun ziehen und vergessen. Katzen ohne Fell sind kein schöner Anblick. Aber man könnte den Zaun vielleicht so bauen, daß er auch für Tiere ein unüberwindliches Hindernis darstellt. Und die angeblich hohe Rate an Krebserkrankungen in der Umgebung könnte ebenfalls nur ein Zufall sein.

Ein Zyniker meinte, arbeitslose Hallenser, von denen es ja genug gibt, sollte man in die Wüste an den Golf schicken, um Saddams Giftküche zu bergen. Hallenser sind resistent!

Etwas Hoffnung zum Schluß; in jenem Orgacid-Gebäude gibt es Leute, die sich verantwortlich fühlen, die Bombe zu entschärfen. Doch ihr weiteres Anstellungsverhältnis ist unklar. Aber es wäre für uns alle katastrophal, wenn eben diese Leute arbeitslos würden. Doch das nötige Geld, wie gesagt, geht zur Neige. Das Fatale: Es gibt eine Firma, die momentan zwar damit beschäftigt ist, Zäune zu setzen, die aber eigentlich darauf spezialisiert ist, solche Gelände zu entsorgen. Und es gibt eine Bevölkerung, die seit fünfundvierzig Jahren mit der Bombe schläft.

Guten Morgen, Halle!

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