: Die Theorie ist elegant. Die Praxis weniger
Englands „Präzedenzfall“-Strafrecht ist der Auszehrung verfallen/ Menschenrechtskonvention gilt noch immer nicht ■ Aus London David Ballister
Das britische Strafrechtssystem, einst als das beste und fairste der Welt angesehen, hat in den vergangenen Jahren eine Reihe harter Schläge zu verzeichnen. Es hat sich als fehlbar und reformbedürftig erwiesen.
Englands Strafrecht ist dem der anderen europäischen Länder völlig unähnlich: Die Gerichtsverhandlungen sind nicht geprägt von der Verhandlungsführung durch den Vorsitzenden und einem ausschließlich der Wahrheitsfindung verpflichteten Staatsanwalt, wie etwa in Deutschland oder Italien, sondern von der Auseinandersetzung der Parteien. Die „Krone“, der Staatsanwalt, muß die Schuld des Angeklagten „jenseits jeden Zweifels“ vor einer Jury von zwölf Personen beweisen, und zwar aufgrund von Erhebungen durch die Polizei. Der Verteidiger hat die Aufgabe, die Beweiskraft und die Ermittlungsergebnisse im Kreuzverhör zu zerstören. Der Richter regelt ausschließlich Rechtsfragen, doch geschickte Richter können ihre Ansicht über Schuld oder Unschuld des Angeklagten dennoch einfließen lassen — und sie tun es auch.
Das britische Recht ruht auf drei Fundamenten: Vergehen werden definiert entweder durch das alte „Common Law“, das Gewohnheitsrecht, wie etwa bei Mord, oder durch Normen, die vom Parlament verabschiedet wurden; und die Rechtsauslegung erfolgt durch Verweis auf sogenannte „Präzedenzfälle“ — der Gesamtheit der Urteile in früheren Fällen, einschließlich der Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes, des Houses of Lords.
So weit ist die Theorie recht elegant und in sich schlüssig; tatsächlich hat sie sich aber mit einigen recht unfreundlichen Realitäten zu messen. So ist zum Beispiel der Ermittlungsprozeß der Polizei — eine weitere international reputierte Einrichtung Englands — neuerdings unter wachsenden Beschuß geraten. Es gibt zahlreiche Verdächtigungen, einige davon bewiesen, über Beweismanipulationen durch die Polizei. Obwohl der „Police and Criminal Evidence Act“ von 1984 die Rechte des Angeklagten besser zu schützen versucht, hat die Polizei in zahlreichen Fällen auch weiter die Wahrheit zwecks Schuldbeweis kräftig manipuliert. In dem auch für Birmingham zuständigen District West Midlands mußte vor einem Jahr die gesamte Kripo — eine Elitetruppe von Agenten — wegen Rechtsbeugungen und Korruption amtsenthoben werden.
Die „Schönheitsfehler“ setzen sich jedoch über die Polizei hinaus auch direkt ins Gerichtswesen hinein fort. So kann ein Bürger, wird er von einem der unteren, von Laienrichtern besetzten Gerichte, ins Gefängnis geworfen, gut ein Jahr in einem der antiquiertesten Knäste Europas in U-Haft sitzen, bevor sein Verfahren weitergeht. In vielen Zellen gibt es noch immer die Löcher im Boden als Klosetts. Das Untersuchungsverfahren in England gilt mittlerweile weithin als kulturelle Schande.
Die Regierung hat inzwischen ein enormes Programm zum Neubau von Gefängnissen begonnen; doch die meisten Gefängnisse sind noch immer überfüllt. Das war in den letzten Jahren Ursache für eine Reihe von Häftlingsrevolten, aber auch von zahlreichen Selbstmorden in der Zelle. Doch Großbritannien weist noch immer die höchste Pro-Kopf- Rate an Häftlingen in ganz Europa auf (derzeit 45.000 Gefangene).
In den höheren Instanzen, — „Crown Courts“ — haben die Richter allesamt dieselbe Bildungsstruktur und denselben sozialen Hintergrund: vorwiegend Weiße, Männer, aus den Oberschichten, konservativ. Obwohl sie formell unabhängig von der Exekutive sind, ist ihr Oberaufseher — der Lord Chancellor — Regierungsbeamter und Kabinettsmitglied. Kritische Überprüfungen der Rechtssprechung hinsichtlich ein und desselben Delikts in den verschiedenen Gebieten des Landes haben inzwischen starke Schwankungen festgestellt. Mitunter weigern sich Richter auch in höheren Instanzen immer wieder, das Prinzip der Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen Verurteilung anzuwenden. Eine Tendenz, die sich dort verstärkt, wo blanke Politik mit ins Spiel kommt — etwa die Behandlung von Angeklagten in den Bürgerkriegsgebieten Nordirlands. Hier wurden in Fällen, in denen lebenslängliche Haft verhängt worden war, zahlreiche Rechtsbeugungen sogar der obersten regierungsamtlichen Ermittler festgestellt, bis hin zu blanken Lügen, Fälschungen und sogar der Unterdrückung von Alibis (etwa bei den „Guildford Four“ und den „Maguire Seven“ sowie, besonders spektakulär wegen der laufenden Berufung, der „Birmingham Six“).
Es ist zweifellos kein sonderlich überzeugendes System, das sich da auf die europäische Rechtsharmonisierung vorbereitet — oder auch eben nicht vorbereitet. Tatsächlich fährt Englands Regierung wie eh' und je den Kurs stiller oder offener Resistenz gegen wichtige Normen. Obwohl schon seit 1973 Mitglied der EG und damit dem Europarecht unterworfen, weigert sich Großbritannien zäh, die Europäische Menschenrechtskonvention, Grundlage nahezu aller europäischen Normen, in sein Gesetzbuch aufzunehmen.
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