Abschied von der Saga des „Europarechts“

Statt Harmonisierung nun „wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen rechtlichen Systeme“ — was immer das sein soll/ Die geplante Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit soll nicht darunter leiden/ Das Beispiel Wirtschaftsrecht  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Es gab einmal eine Zeit, da träumten die Eurokraten in Brüssel davon, die unzähligen nationalen Rechtsvorschriften der zwölf Mitgliedstaaten zu „harmonisieren“. Das Zauberwort galt als Synonym für die Schaffung des europäischen Binnenmarkts. Doch je näher der magische 1. Januar 1993 rückt, desto unrealistischer erscheint die ursprüngliche Absicht. Statt dessen gewinnt die Formel von der „wechselseitigen Anerkennung der unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Systeme“ an Popularität. Anders als noch vor kurzem behauptet, soll auch der Glaubenssatz der Binnenmarktstrategen — die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit — nicht darunter leiden. Im Gegenteil: „Es wäre unseren schwächeren Partnern gegenüber geradezu verhängnisvoll, ihnen etwa jene sozialen Leistungen aufzuerlegen, die wir in der Bundesrepublik für selbstverständlich halten.“

Wichtiger sei es, erklärt der Vorsitzende im Rechtsausschuß des Europaparlaments, Willy Rothley, „unsere Flexibilität zu erhalten“. Schließlich „wäre es völlig illusorisch, etwa vor der Anerkennung von Hochschuldiplomen die nationalen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen der verschiedenen Studienfächer harmonisieren zu wollen. Damit könnte man ja Tausende von Beamte jahrzehntelang beschäftigen. Denn „ob das Testamentrecht in Sardinien mit dem von Dänemark, das irische Scheidungsrecht mit dem von Griechenland identisch ist“, so der SPD-Politiker, „ist völlig gleichgültig.“ Ähnliches gelte auch für die Angleichung so unterschiedlicher Normen wie des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts, des Umwelt-, Renten- oder Bankenrechts. Viel einfacher sei es doch, die unterschiedlichen Vorschriften gegenseitig anzuerkennen.

Dieses Konzept erfordere lediglich die Einführung sogenannter „Mindeststandards“ — die zu entwickeln man allerdings immer noch Heerschaaren von Juristen braucht. Die Paragraphenspezialisten in Brüssel sollen nun dafür sorgen, daß das Normengestrüpp nationaler und europäischer Rechtsverordnungen rechtzeitig zur Eröffnung des gemeinsamen Binnenmarktes begehbar wird. Erfolge haben sie dabei schon, wie EG-Kommissionspräsident Jacques Delors kürzlich stolz bekannt gab: Die symbolische Schwelle sei längst überschritten, der europäische Binnenmarkt schon vor dem 1. Januar 1993 Realität. 200 der 282 geplanten EG-Richtlinien seien schon verabschiedet.

Delors räumte allerdings ein, daß es in einigen wichtigen Bereichen der Rechtsangleichung noch Schwierigkeiten gebe. Dazu gehören, neben Vorschriften über den freien Personenverkehr, über Einwanderung und Asyl vor allem indirekte und Unternehmenssteuern. Ohne eine Einigung ist jedoch das öffentlich wirksame Kernstück des Binnenmarkts, der Abbau der EG-internen Grenzkontrollen, kaum durchzusetzen. Eine einheitliche Überwachung der Außengrenzen gilt noch immer als „conditio sine qua non“ für die Aufhebung der Schlagbäume im Inneren des europäischen Reichs.

Die Harmonisierung steht noch immer aus

Vorbedingung ist auch die Angleichung der enorm unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze (zwischen zwei und 48 Prozent). Zwar beschlossen die EG-Wirtschafts- und -Finanzminister Ende vergangenen Jahres in überraschender Einmütigkeit, an dem Bestimmungslandsprinzip festzuhalten — die Ware wird mit dem Satz des Verbrauchslandes besteuert, statt — wie es die EG-Steuerkommissarin Christiane Scrivener gerne möchte — im Ursprungsland. Die Harmonisierung, oder wie es seit einiger Zeit weniger ehrgeizig heißt, die „Annäherung der indirekten Besteuerung“ steht jedoch immer noch aus.

Noch schlechter ist es um die Angleichung der Unternehmenssteuern bestellt. Während beispielsweise der irische Staat nur zehn Prozent abkassiert, fordert der Fiskus in der Bundesrepublik bis zu 50 Prozent — für die Experten des Brüsseler Forschungsinstituts „European Policy Studies“ Grund zur Sorge: Dies sei eines der „wirksamsten Mittel, um Entscheidungen darüber, in welchem EG-Land investiert werden soll, zu beeinflussen“. Das britische Institut für Steueruntersuchungen berechnete, daß sich die Gewinnspannen von Unternehmen wegen national unterschiedlicher Steuersätze um bis zu drei Prozent unterscheiden.

Um dennoch die sogenannten vier Freiheiten von Kapital, Arbeit, Waren und Dienstleistungen Anfang 1993 zumindest formal in Szene setzen zu können, greifen die EG-Kommissare selbst in Kernbereichen der Binnenmarktgesetzgebung immer stärker auf die Losung der wechselseitigen Anerkennung zurück. Die dazugehörigen Mindeststandards orientieren sich in der Regel an den Bedingungen der schwächsten Mitgliedsländer und bereiten bei der Annahme weniger Schwierigkeiten. Als akzeptanzfördernd hat sich dabei der Slogan „Subsidiaritätsprinzip“ erwiesen. Alles was nicht unbedingt auf europäischer Ebene geregelt werden muß, soll in nationaler, regionaler oder gar lokaler Regie entschieden werden.

Diese Formel beschwingt Regionalisten und Zentralisten gleichermaßen: Was den einen als Inbegriff eines europäischen Föderalismus gilt, dient den anderen zur Eingrenzung wettbewerbbehindernder Faktoren im Binnenmarkt. Die USA bilden seit über 200 Jahren einen gemeinsamen Binnenmarkt. Einen einheitlichen Sozialraum gibt es bis heute nicht, ohne daß dies den USA geschadet hätte. Auch Europas Stärke liegt in seiner Vielfalt, die in den Prinzipien der Subsidiarität, Flexibilität und Dezentralisierung ihren Ausdruck findet, schreibt der Präsident des Bundessozialgerichts in Kassel, Heinrich Ritter.

Er schreibt es allerdings nicht ohne Hintersinn: Schließlich fällt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hin und wieder konsumenten-, umwelt- und gar ausländerfreundlich aus — und Heinrich Ritter, und nicht nur er, sähe es lieber, wenn solche Fälle den nationalen Gerichten vorbehalten blieben.