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Endlich: Gorbi holt sie alle raus!

■ Nach Erich Honecker flogen weitere 300 Berliner Persönlichkeiten nach Moskau / In der Hauptstadt der Werktätigen sollen sie Aufbauhilfe leisten

Die taz verbreitete es gestern um 16.00 Uhr weltexklusiv an alle Nachrichtenagenturen: Honecker war nur der erste. Über 300 Personen aus der Berliner Prominentenszene wurden gestern nachmittag von einer geleasten Transall-Maschine der Bundeswehr nach Moskau ausgeflogen — darunter Ex-Stasi-Chef Erich Mielke, der Entertainer Harald Juhnke, die ehemalige DDR-Staatschefin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) und der 1988 aus der DDR ausgewiesene Liedermacher Stefan Krawczyk sowie die Abgeordnetenhauspräsidentin Hanna-Renate Laurien (CDU).

Die genauen politischen Hintergründe des unglaublichen Coups sind noch unklar. Wie die taz aus gut unterrichteten Kreisen in Bonn erfuhr, war das Kabinett Kohl aber von der Aktion unterrichtet. Wie ein Mitarbeiter von Innenminister Wolfgang Schäuble der taz mitteilte, sollen die Männer und Frauen in der Sowjetunion Aufbauhilfe leisten, möglicherweise sogar Regierungsfunktionen in Moskau übernehmen. Geheimer Arbeitstitel der Aktion: »Dr. Schiwago«.

Der Supertransporter landete exakt um 14.53 Uhr auf dem Berliner Ring (siehe Foto) in der Nähe der Autobahnraststätte Potsdam-Süd. Dort standen 43 Pritschenlastwagen der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte bereit — sie hatten die ausreisewillige Prominenz aus dem West- und Ostteil der Stadt an den Landeplatz gebracht. Die Feuerwehreinheit der Tempelhof Airbase war mit mehreren Einsatzwagen vor Ort.

Trotz der von den Behörden verordneten Nachrichtensperre gelang es unseren Reportern, Licht in die dunkle Affäre zu bringen. Nach Augenzeugenberichten wurde die Nomenklatura vom Bundespräsidenten von Weizsäcker an der Raststätte verabschiedet. Weizsäcker betonte in seiner Rede die historische Verantwortung der Deutschen gegenüber der Sowjetunion. Wörtlich sagte er: »Wer einmal, wie wir, verbrannte Erde hinterlassen hat...« — doch in diesem Moment durchschnitt sein Pressesprecher das Mikrofonkabel und forderte von Weizsäcker auf, endlich mit dem persönlichen Überreichen der Lufthansa-Stullenbeutel zu beginnen. Außerdem erhielt jeder Mitreisende eine Capri- Sonne. Wie die taz erfuhr, soll es während des Fluges unter den Passagieren zu Unstimmigkeiten gekommen sein, weil zuwenig Strohhalme an Bord waren.

Der taz liegt als einzigem deutschen Printmedium die Passagierliste des Geheimflugs »Dr. Schiwago« vor. Die völlig unterschiedliche Zusammensetzung des Flugkollektivs gibt Rätsel auf. So war die in Pankow lebende Lotte Ulbricht, greise Witwe des Ende der sechziger Jahre verstorbenen DDR-Despoten Walter Ulbricht, genauso mit von der Partie wie das im Osten sehr beliebte Volksmusik-Duo Klaus-Dieter Henkler und Monika Hauff. Aus purer Eifersucht sagten die angefragten Hellwig-Schwestern und die bekannte Volksmusik-Moderatorin und Dirndl-Propagandistin Carolin Reiber ihre Teilnahme ab. Die überwiegende Mehrheit der Persönlichkeiten kam jedoch aus Berlin. Wie die taz in Bonn erfuhr, sollte mit dieser Zusammensetzung auch ein deutliches Zeichen in der Hauptstadt- Diskussion gesetzt werden. »Der Flug wertet die ehemals geteilte Stadt geistig-moralisch auf«, erklärte Regierungssprecher Vogel in einem Exklusiv-Interview mit der taz. Der Berliner Bausenator Nagel (SPD) begrüßte die Aktion in einer ersten Stellungnahme, weil sie »Wohnraum für die Bonner Regierungsspitze in Berlin« schaffe.

Weitere Prominente im Geheimflug »Dr. Schiwago«: der Berliner CDU-Generalsekretär Klaus Rüdiger »Schwarzsocke« Landowsky (soll lokalen Privatfunk in der UdSSR aufbauen), der CDU-Bundestagsabgeordnete Heinrich »Lizenz zum Vögeln« Lummer (künftiger Leiter der Anti-Mafia-Abteilung des KGB), Jugendsenator Thomas »Do the Bartman« Krüger (SPD) (übernimmt die Politschulung in der Russisch-Orthodoxen Kirche) und Tino »Die Kelle« Schwierzina (wird Präsident der Gulaschkanoneneinheit der Veteranen der Roten Armee). Auch Abgeordnetenpräsidentin Hanna »Granata« Laurien war an Bord. Sie soll die Truppenbetreuung der Roten Armee in Tblissi übernehmen. Begleitet wird sie von Ulrich Schamoni, der für die Intendanz von Radio Eriwan vorgesehen ist. Ost- Liedermacher Stefan Krawczyk zahlte 3.000 Mark, um als letzter auf die Warteliste zu kommen. Überglücklich betrat er um 14.32 die Maschine, rief den taz-Reportern zu: »Ich werde im Moskauer Lenin-Stadion auftreten und die Pink-Floyd- Oper The Wall auf der Quetschkommode intonieren!« Harald Juhnke und Gunther Emmerlich sollen künftig abwechselnd eine Unterhaltungsshow des sowjetischen Fernsehens moderieren, die auch in ganz Westeuropa über Satellit ausgestrahlt wird. Zunächst waren für diesen Posten Wim Thoelke und Kurt Felix im Gespräch. Thoelke mußte seine Beteiligung wegen schwerer Krankheit absagen, Felix wollte ohne Ehefrau Paola nicht abreisen.

Kinderreimer und Tattersänger Udo Lindenberg ließ mit einem Taxi mehrere Kartons mit CD-Aufnahmen seines historischen Leipziger Wendekonzerts an die Maschine bringen: »Bißchen Multi-Kulti für die proletarischen Massen. Grüßt mir den Oberindianer.« Er selbst durfte wegen verschärften Haarausfalls nicht mitreisen, weil der russische Flugkapitän sein Veto eingelegt hatte. »Hunde fliegen ja auch im Gepäckraum mit!« meinte er.

Am Moskauer Zentralflughafen wurden die Neusowjetbürger von Erich Honecker empfangen. »Genossinnen und Genossen!« rief er aus, »aus dem Vergangenen lernen, die Gegenwart bewältigen, die Zukunft gestalten! Das soll unsere Losung sein!« Die baltischen Republiken haben inzwischen gegen die Aufnahme Honeckers und seiner NachfolgerInnen in Moskau protestiert. Damit werde das Zentralregime in Moskau in unerträglicher Weise von Großdeutschland hofiert, erklärten die drei Staatschefs auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Tallinn. Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley sprach sich in Moskau nach Bekanntwerden der baltischen Erklärung für die sofortige Installierung eines Runden Tisches aus. »An ihm sollten alle miteinander reden«, erklärte sie gestern abend.

Das »Cello« de Maizière begab sich sofort in kieferorthopädische Behandlung bei einem berühmten Facharzt. Außerdem konsultierte er noch gestern abend einen Logopäden (Sprachtherapeuten). Seine erste Übung: Der Satz »Ich kenne keinen Czerni!«. De Maizière soll in Zukunft die erste Geige im staatlichen Rundfunkorchester Moskau spielen. Als letzter verließ Alexander Schalck-Golodkowski das Superflugzeug. Die Stewardessen hatten eine Zeitlang damit zu tun, dem Devisenschieber die Holzwolle aus den Ohren zu pulen. Schalck hatte sich in einer KoKo-Kiste versteckt. Der blinde Passagier konnte schließlich den Zoll passieren, weil er die russischen Beamten mit einer bayerischen Madonnenfigur beglückt hatte. CC Malzahn&HH Kotte

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