: Honeckers letztes Exil
Kohl ließ Honecker ziehen
Der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff hat in der ihm eigenen Offenheit die Hintergründe für den Abflug des SED-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker benannt: In der Debatte über die Ratifizierung des Zwei-plus-vier-Vertrages im sowjetischen Parlament habe „ein Teil der Abgeordneten seine Zustimmung zu dem Vertragswerk offensichtlich vom Erfolg dieser Strafvereitelung für Honecker abhängig gemacht“. „Gewisse Kräfte in der Sowjetunion“ wollten offenbar „einem treuen Erfüllungsgehilfen und Mitwisser vergangener Tage einen letzten Dienst erweisen“. Vor diesem Hintergrund werde auch klar, warum die Parlamentssitzung hinter verschlossenen Türen stattgefunden habe, meinte Lambsdorff.
Regierungssprecher Dieter Vogel versicherte derweil, es habe über die Verlegung des früheren DDR- Staats- und Parteichefs keine geheime Absprache zwischen Bonn und Moskau gegeben. Vogel räumte allerdings ein, es sei bekannt gewesen, daß Moskauer Abgeordnete auch im Zusammenhang mit der Ratifizierung des 2+4-Vertrages die Überstellung Honeckers gefordert hätten. Bei den Beratungen über die Bonner Reaktion auf Honeckers Abflug seien sowohl „rechtspolitische als auch außenpolitische Implikationen“ bedacht worden.
Nach Angaben des Sprechers des sowjetischen Außenministers, Tschurkin, ist das Kanzleramt „mehrere Stunden vor der Abreise“ Honeckers informiert worden — anderthalb Stunden, räumt Regierungssprecher Vogel ein. Kurz vor seiner Rede im Bundestag war Kohl auf der Regierungsbank von einem Beamten des Kanzleramtes unterrichtet worden. Kohl blieb sitzen und hielt danach seine Rede, in der es zu dem für Beobachter am Mittwoch noch überraschenden Versprecher kam: Kohl titulierte den SPD-Chef Hans-Jochen Vogel nach einem Zwischenruf mit „Herr Kollege Honecker“. Im Parlament rief das Gelächter und Protestrufe hervor. Kohl war offenbar in Gedanken woanders gewesen.
Nach Ansicht von Justizminister Kinkel verletzt das sowjetische Vorgehen das deutsch-sowjetische Truppenabkommen, in dem sich die Sowjetunion zur Beachtung der deutschen Gesetze verpflichtet hat. Die Verträge über die Stationierung von sowjetischen Truppen im souveränen Deutschland seien, so Klaus Kinkel (FDP), „keine Verträge zwischen Bananenrepubliken“. Kinkel äußerte gleichzeitig Verständnis dafür, daß die Sowjetunion ihrem alten Kampf- und Weggefährten Honecker geholfen habe. Bonn besteht formell auf seiner Forderung, daß Honecker zurückgebracht wird. Mehr könne man aber nicht tun, meinte der Regierungssprecher. In Moskau wurde gestern mittag schon erklärt, der gerade eingetroffene Honecker könne wegen seines Gesundheitszustandes nicht zurückkehren. Außenminister Alexander Bessmertnych sagte, es handele „sich nicht um einen Besuch“. Die Deutschen seien informiert gewesen.
Der sowjetische Botschafter Wladislaw Terechow kam gestern ins Auswärtige Amt, um die Ratifikationsurkunde des Deutschlandvertrages zu überreichen und in aller Form dem Bundesaußenminister „herzlich“ zur Souveränität zu gratulieren. Genscher rettete sich mit steinernem Gesicht in die historische Dimension des zentralen deutsch-sowjetischen Verhältnisses. Gestern abend flog er ab nach Moskau zu Konsultationen über die Details des zwischen Gorbatschow und Kohl verabredeten deutsch-sowjetischen Vertrages „Gute Nachbarschaft“.
SPD-Chef Hans-Jochen Vogel dokumentierte Verständnis: „Der Vorgang macht auch deutlich, wie endgültig dieser Teilabschnitt der deutschen Geschichte der Vergangenheit angehört.“ Trotz allem, was diesem Mann vorzuwerfen sei und ihn sicher auf Dauer belasten werde, könne er, Vogel, nicht ganz aus der Erinnerung streichen, daß der Mann zehn Jahre lang während der NS-Zeit im Zuchthaus gesessen habe.
Der ehemalige Ständige Vertreter Bonns in Ost-Berlin, Klaus Bölling, warnte vor einer Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen: „Die Bundesregierung muß sich überlegen, ob es lohnt, daß wir jetzt wochen- oder monatelang mit der Sowjetunion darüber streiten, ob ein todkranker Mann wieder nach Deutschland zurückgebracht wird.“
Auch der Berliner Senatssprecher Dieter Flämig signalisierte Verständnis. „Wir wollen trotz allen Ärgers über Honecker nicht vergessen, welchen Beitrag die sowjetische Regierung zur Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins geleistet hat.“ Der Leiter der Berliner Arbeitsgruppe Regierungskriminalität, Christoph Schaefgen, meinte aber, es sei „nicht auszuschließen“, daß andere beschuldigte SED-Verantwortliche Honecker folgen. Die Berliner Justiz ermittelt gegenwärtig gegen mehr als 30 frühere SED-Funktionäre. Nach den Worten Schaefgens kann die Berliner Staatsanwaltschaft gegen diesen Personenkreis lediglich wegen des vagen Fluchtverdachts aber keine Haftbefehle erwirken.
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