Spree-Athen sticht Bundesdorf aus

■ Berlin sieht Wende im Streit um Regierungssitz/ Neuverteilung aller Bundesbehörden soll Bonn-Fraktion aufweichen/ Keine Kampfabstimmung

Berlin. Im Streit um den Regierungssitz des vereinten Deutschlands registriert Berlin eine »Trendwende«. Mit vorsichtiger Genugtuung verzeichnen der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und die Spree-Lobbyisten aller Parteien, daß die laute Selbstsicherheit, mit der Bonn seit der Vereinigung Deutschlands und den Bundestagswahlen den Anspruch auf den dauerhaften Regierungssitz erhebt, den gleichen Negativeffekt zeigt wie eine ebenso selbstsichere Pro-Berlin-Kampagne im vergangenen Jahr. Die Bundestagsfraktionen vereinbarten am Donnerstag, vor der Sommerpause über den Parlamentssitz zu entscheiden, möglicherweise mit einem einfachen Beschluß. Dieser müßte, anders als ein Gesetz zum Regierungssitz, nicht vom Bundesrat abgesegnet werden.

Berlin sträubt sich aus gutem Grund gegen eine Einzelentscheidung: Im Bundestag stehen die Zeichen für eine Mehrheit für Berlin unverändert schlecht. Laut einer Umfrage der 'Bild am Sonntag‘ verfügt die Front der Bonn-Befürworter derzeit unter den 662 Abgeordneten über eine knappe Mehrheit von 333 Stimmen. Berlin hat noch deutlich weniger offene Befürworter und muß um »Wechselwähler« ringen. Die aktuelle Stimmung im Parlament entspricht etwa der »draußen im Lande«: Im jüngsten ZDF-Politbarometer sprachen sich 53 Prozent der Bürger für Bonn und 43 Prozent für Berlin als Regierungssitz aus.

Die frischgebackene Bundeshauptstadt an der Spree strebt statt einer unsicheren Parlaments-Kampfabstimmung ein Gesamtpaket an. Alle oberen Bundesorgane sollten nach der Vereinigung unter Berücksichtigung der neuen Länder verteilt werden. Von dieser Lösung, bei der ein Einvernehmen der Länder unausweichlich ist, erhoffen sich die Berliner ein Aufbrechen der festgefügten Pro-Bonn-Gruppe. Furcht flößt ihnen vor allem ein drohender Gruppenantrag von Bonn-Befürwortern aller Parteien in Bundestag ein, der erfahrungsgemäß stark disziplinierend wirkt und das Stimmverhalten festschreibt. Die Berliner wollen sich daher im Parlament mit einem Gegenantrag so lange zurückhalten, bis die Pro-Bonner aus der Deckung kommen.

Bundesinnenminister Schäuble brach mit der baden-württembergischen CDU Anfang März ein Filetstück aus der Koalition für Bonn, die von Nordrhein-Westfalen, Bayern und Rheinland-Pfalz angeführt wird. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hält sich konsequent bedeckt. Die Berliner CDU-Abgeordneten üben sich daher in einer an Bibelforschung erinnernden Auslegung der Worte der engsten Kohl-Anhänger: Kanzleramtschef Seiters und Schäuble sind klar für Berlin, da wird der Kanzler ebenso denken, orakeln sie. Volkmar Meier/afp