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Ein Kokain-Schmuggler spielt Kronzeuge

■ Ertappter Peruaner beschuldigt kolumbianischen Touristen / Nach eineinhalb Jahren U-Haft fällt morgen das Urteil

Könnten sich die Balken des wuchtig holzgetäfelten Saales 218 in Bremens Landgericht biegen, die ganze bombastische Deckenkonstruktion wäre der 4. Hilfsstrafkammer schon mehrmals auf den Kopf gefallen. Denn gelogen wurde an den inzwischen rund 50 Verhandlungstagen des Prozesses um den Schmuggel von zwei Kilo Kokain im Bremer Freihafen mehr als der stärkste Balken trägt — und das nicht nur von der Angeklagtenbank. Auch vom Zeugenstuhl aus warfen einige Bremer Zollbeamte zum Beispiel mehr Fragen nach ihrer Glaubwürdigkeit auf als sie Licht in das Dunkel der Anklage bringen konnten.

Zwei Lateinamerikaner stehen seit 18 Monaten im Mittelpunkt dieses Mammut-Verfahrens: Der eine, Daniel G.-N., Peruaner, wurde am 16. September 1989 gegen 15 Uhr im Bremer Freihafen mit zwei Kilo Kokain unter der Jacke verhaftet. Der andere, Marino T.-L., Kolumbianer, befand sich zur gleichen Zeit in Unterhemd und -hose im Bett des Doppelzimmers, das er seit einigen Tagen mit dem Peruaner im „Flensburger Hof“ bewohnte.

Vor zwei Wochen hielt Staatsanwältin Barbara Lätzel ihr Plädoyer: vier Jahre für den Peruaner wegen des auf frischer Tat ertappten Kokain-Schmuggels, und fünf Jahre für den Kolumbianer Marino T.-L.. Er, so die Staatsanwältin, soll der Bewacher des Peruaners, womöglich sogar der Hintermann des ganzen Schmuggels gewesen sein. Einziges Indiz: die Aussage des in flagranti erwischten Peruaners, der Kolumbianer sei sein Auftraggeber. Morgen will das Schöffengericht das Urteil sprechen.

Der Peruaner Daniel G.-N. hat dabei keine große Überraschung zu erwarten. Zwar rechnet ihm die Staatsanwältin seine belastende Aussage, Marino T.-L. sei sein Auftraggeber gewesen, strafmildernd an, doch einige Jahre Knast sind für den Schmuggel von zwei Kilo Kokain allemal fällig. Entscheidend ist die Meinung der Richter dagegen für den mitangeklagten Kolumbianer. Folgt ihr Urteil — wie schon zuvor in zwei Ablehnungen der Einstellung des Verfahrens und einer Haftprüfungs-Entscheidung — der Aussage des peruanischen Kronzeugen, dann wird sich seine bisher eineinhalbjährige Untersuchungshaft um Jahre verlängern. Geht es dagegen nach Marino T.-L.s Anwalt Stephan Barton, dann kann am Ende des Prozesses nur ein Freispruch stehen.

Eine Europareise...

“Ein graues Haar in die Luft werfen“, das sei die Motivation für seine Europareise gewesen, erklärte Marino T.-L. dem Gericht. Um der Eifersucht seiner kolumbianischen Lebenspartnerin zu entfliehen, habe er spontan Bekannte mit der Betreuung seines Bauernhofs beauftragt und sein Erspartes genommen, um den alten Kontinent und „die berühmte Mauer von Berlin kennenzulernen, von der ich schon als Kind gehört hatte.“ Der Traum sollte nicht in Erfüllung gehen. Nachdem er vier Monate bei einer Freundin in Frankreich verbracht hatte, machte sich Marino T.-L. Anfang September 1989 zwar tatsächlich in Richtung Deutschland auf, doch die Reise endete schon nach wenigen Tagen hinter Oslebshauser Gittern. Und die Berliner Mauer wurde abgerissen.

...hinter Oslebshauser Gitter

In einer Hafenkneipe in Antwerpen habe er den Peruaner G.-N. kennengelernt, erinnerte sich Marino T.-L. vor Gericht. Ein paar Tage später habe er sich gerne der neuen Urlaubsbekanntschaft auf dessen Deutschlandreise angeschlossen, denn der Peruaner habe ihm seine Sprach- und Landeskenntnisse angepriesen, die er in einem jahrelangen Europaaufenthalt sammeln konnte. In Bremen verbrachte T.-L. die wenigen Tage vor seiner Verhaftung in Porno-Kinos und Bahnhofskneipen und in Gesellschaft einer Urlaubsbekanntschaft, mit der zusammen er am Tag des Kokain-Schmuggels seines peruanischen Bekannten „in der Straße mit den Schweinen“ einkaufen ging. Während der Peruaner im Hafen verhaftet wurde, hielt T.-L. in seinem Hotelbett Siesta. So wurde er von der Polizei angetroffen, nachdem Daniel G.-N. ihn als Hintermann des Schmuggels denunziert hatte.

Stolz berichtete der Polizeibeamte vor Gericht von dem „Überraschungseffekt“ bei der Festnahme des vermeintlichen „Hintermannes“. Auch Haftrichter Hans-Joachim Gerboth schenkte der Hintermann-Version vollen Glauben — unterstützt von der Aussageverweigerung des Kolumbianers. Diesem „Richter, der den ganzen Despotismus und die Omnipotenz der Justiz transpiriert“, habe er kein Vertrauen geschenkt, begründete T.-L. später sein anfängliches Schweigen.

Zoll wußte Bescheid

Ganz überraschend kam die Festnahme des Peruaners im Bremer Freihafen nicht. Bereits zwei Wochen zuvor war der Bremer Zoll per Telex von englischen Kollegen über einen möglichen großen Kokain-Transport informiert worden. Auf dem von Hapag Lloyd gecharterten peruanischen Schiff „Unisierra“ seien 132 Kilo des Rauschgiftes von England unterwegs nach Bremen, teilten die Briten mit Verweis auf US-amerikanische Erkenntnisse mit. Britische Rauschgifthunde hätten in der Kabine des Schiffsmechanikers Carlos Bajares auch Witterung aufgenommen, eine Durchsuchung habe jedoch nichts ergeben. Abschließend wünschten die britischen Zollfahnder ihren Bremer Kollegen mehr Glück und „good hunting“ (Waidmannsheil).

Über diese Vorgeschichte informierte der Zoll das Gericht jedoch erst Monate nach Beginn des Prozesses. Und noch einige Monate später tauchte plötzlich ein Ermittlungsverfahren des Bundeskriminalamtes in Sachen „Unisierra“ auf. Über 500 Kilo Kokain, versteckt in Fässern mit Ochsengalle, waren nämlich bereits in Hamburg von Bord des peruanischen Schiffes gegangen. Einen Zusammenhang mit dem Bremer Fall wollten jedoch weder der Zoll noch das Gericht sehen.

Dabei ist der Zoll offensichtlich davon ausgegangen, daß die zwei Kilo Kokain, mit denen Daniel G.-N. am 16. September '89 im Bremer Freihafen verhaftet wurde, von der „Unisierra“ stammten. Denn er führte alle Unterlagen im Fall G.-N. und T.-L. in seiner Akte „Unisierra“. Doch um den auf der „Unisierra“ fahrenden und bereits avisierten möglichen Rauschgifthändler Carlos Bajares kümmerten sich die Bremer Fahnder trotzdem nicht. Stattdessen vernahmen sie einen Tag nach der Festnahme des Peruaners einen Mann namens Carlos Pajares, Mechaniker auf der „Unisierra“. Dessen Name stand nämlich auf einem Zettel, den G.-N. bei seiner Verhaftung in der Tasche hatte. Pajares wurde nach der Vernehmung wieder freigelassen und war später als Zeuge nicht mehr wiederzufinden. Einen Zusammenhang zwischen Carlos Pajares und dem aus England avisierten möglichen Rauschgiftschmuggler Carlos Bajares habe man nicht gesehen, erklärte der Zollbeamte H. als Zeuge dem staunenden Schöffengericht.

Auch ein weiterer Kolumbianer, der zur gleichen Zeit im Hotel „Flensburger Hof“ wohnte, blieb von Zoll und Polizei unbehelligt. Auch der Versuch, ihn später als Zeugen zuladen, scheiterte bereits an der Adresse. Man gab sich vollauf mit dem auf frischer Tat verhafteten Peruaner und dem von ihm denunzierten Marino T.-L. zufrieden. Auch die Staatsanwaltschaft hielt seit Beginn des Prozesses an dieser Version fest und ließ sich in ihrer Überzeugung von keinem der zahllosen Widersprüche in den Aussagen des Peruaners G.-N. beirren.

Die „Kerntheorie“

So sagte G.-N. zur der Frage, wo er den Kolumbianer T.-L. kennengelernt habe, einmal in Bremen, ein andermal in Antwerpen. Und zur Frage, wie er von dem Übergabepunkt des Kokains im Freihafen erfahren habe, sagt G.-N. einmal, T.-L. habe ihn auf einer nächtlichen Taxifahrt darüber informiert. Nachdem der Kolumbianer für die angegebene Uhrzeit jedoch ein Alibi vorweisen konnte, verlegte der Peruaner die Taxifahrt einfach um einige Stunden nach hinten. Trotz intensiver Suche fand sich bei den Bremer Taxiunternehmen keine Bestätigung der angeblichen Fahrt in den Freihafen. Zunächst gab G.-N. an, ein kleiner gelber Notizzettel mit dem Liegeplatz der „Unisierra“ (Schuppen 14) sei von dem Kolumbianer geschrieben worden. Später stellte sich jedoch heraus, daß ihn der Schiffsmechaniker Carlos Pajares alias Carlos Bajares geschrieben und an G.-N. weitergegeben hatte.

Als „Kerntheorie“ bezeichnete T.-L.s Anwalt Stephan Barton das Vorgehen der Staatsanwältin, die trotz all dieser Widersprüche an der belastenden Aussage des Kronzeugen G.-N. festhält — nach dem Motto: „Im Kern hat G.-N. doch immer das Gleiche gesagt, nämlich daß T.-N. ihn zu dem Rauschgiftgeschäft verleitet hat. Mögen seine Aussagen in den Randbedingungen auch falsch sein, im Kern glauben wir ihm.“

Entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen dürfte jedoch gerade nicht die belastende „Kernaussage“ sein, sondern die Widerspruchsfreiheit all dessen, „was offensichtlich für die Auskunftsperson subjektiv von zentraler Bedeutung war — und nicht etwa das, was hinterher für die Entscheidung des Richters zentral bedeutsam wird“ — so jedenfalls die Auffassung des juristischen Standardwerks von Bender, Röder, Nack zur Beweislehre.

Doch obwohl der Peruaner G.-N. im Verlauf des Prozesses zu allen entscheidenden Fragen — außer der Anschuldigung des Kolumbianers T.-L. — völlig widersprüchliche Angaben machte, blieb nicht nur die Staatsanwältin, sondern auch das Gericht in seinen Ablehnungen einer Haftbefreiung des Kolumbianers bei der „Kerntheorie“. Gestützt wird sie lediglich von einer einzigen Hypothese: Hätte der Kolumbianer tatsächlich nichts mit dem Kokainschmuggel zu tun, dann wäre es doch unlogisch, daß der Peruaner ihn als Reisebegleiter und Mitbewohner eines Doppelzimmers in dem Bremer Hotel akzeptierte. So hätte er doch nur Wind von dem geplanten Schmuggel bekommen können. Kein Gauner umgebe sich mit Unschuldigen, das sage einem schon die „Lebenserfahrung“, sagte die Staatsanwältin.

„Marino T.-L. muß der Begleiter oder Bewacher des Peruaners gewesen sein“, folgerte sie denn auch in ihrem Plädoyer. „Diese Konstruktion des Kurier- Bewachers ist eine Fiktion“, hielt ihr der Verteidiger entgegen, „sie läßt sich nicht beweisen; aber sie läßt sich — da sie nicht auf realen Tatsachen aufbaut — auch nicht durch reale Tatsachen vollständig widerlegen.“

Alle Beweisanträge des Verteidigers zur Überprüfung der von Marino T.-L. genannten touristischen Motive seiner Europareise lehnte das Gericht in der letzten Woche ab. Schließlich sei eine Verwicklung in den Drogenschmuggel auch dann nicht auszuschließen, so die Begründung, wenn T.-L. tatsächlich auf touristischen Pfaden durch Europa gereist sei.

Gegen diese Position des Gerichts ist jede Verteidigung machtlos. Marino T.-L. hatte es in einem Brief an die Richter so ausgedrückt: „Ich habe inzwischen viele Monate dreifaches Leid ertragen. Aber das härteste ist die lange Agonie. Wenn man mich verurteilen will, weil ich Kolumbianer bin, dann bitte schnell und fertig.“ Dirk Asendorpf

Der Prozeß wird morgen, Dienstag, um 9 Uhr im Saal 218 des Landgerichts fortgesetzt.

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