Kein Reifezeugnis für die Koedukation

Hamburger Frauenkongreß: Emanzipation ist ein ungeliebtes Schulfach  ■ Aus Hamburg Sigrun Nickel

Die Koedukation hat ihr Ziel verfehlt. Statt die Geschlechterrollen neu zu definieren und das Statusgefälle zwischen Mann und Frau aufzuheben, hat diese Schulform zur Verfestigung der bestehenden Verhältnisse beigetragen. Der mathematisch-naturwissenschaftliche Bereich bleibt an den allgemeinbildenden Schulen eine Domäne der Jungen, Mädchen reüssieren wie zu Großmutters Zeiten eher auf dem musisch-sprachlichen Sektor.

Auch im Lehrerkollegium hat immer noch der Mann das Sagen. 50 Prozent der bundesdeutschen Lehrkräfte sind weiblich, doch als Rektorinnen fungieren in den Gesamtschulen nur 7 Prozent, an den Gymnasien 15 Prozent und an den Grundschulen 25 Prozent. Die seit Jahrzehnten im Raum stehenden Forderungen nach Änderung dieses Zustandes verhallen ungehört. Doch nicht immer ist es nur männliche Ignoranz und Bequemlichkeit, die emanzipatorische Bestrebungen innerhalb der Schule beseite schiebt. Auch Kolleginnen wollen von feministisch reformerischen Ideen nichts wissen, weil sie Ärger befürchten. Von der viel beschworenen weiblichen Kooperationsbereitschaft nicht die Spur. Frauen besitzen zudem oft ein zu schwaches Selbstbewußtsein, um ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen, so die Erfahrung vieler Teilnehmerinnen am achten Frauen-und-Schule-Bundeskongreß, der Anfang März in Hamburg stattfand. Drei Tage lang diskutierten 400 Lehrerinnen, Mütter und Schülerinnen aus allen Teilen der Bundesrepublik über frauenspezifische Schulprobleme. Frauen bilden — Zukunft planen lautete der Titel der Tagung, die vom Hamburger Verein „Frau und Schule“ veranstaltet wurde.

Deutlich wurde auf dem Kongreß, daß sich im Schulalltag wenig von den Gleichberechtigungsgedanken der vergangenen 20 Jahre wiederfinden läßt. Die Überalterung vieler Schulkollegien mag ein Grund dafür sein, denn mit älteren Pädagogen, die um eins nach Hause eilen, um sich von der Gattin das Essen servieren zu lassen, sei eben schlecht über die Unterdrückung der Frau zu diskutieren, so der Tenor der in Hamburg versammelten Pädagoginnen. Doch auch bei den jüngeren Kollegen sei das Verständnis nicht gerade üppig. Selbst bei den Schülerinnen stoßen die um Emanzipation bemühten Lehrerinnen des öfteren auf Unverständnis. „Ich habe keine Probleme“, so die abwehrende Reaktion der Mädchen, auf die Unterdrückung durch Jungs angesprochen. Manche Pädagogin wird sogar mit der Aussage konfrontiert, sie solle erst mal ihre eigenen Probleme mit den Männern lösen und diese nicht fortwährend auf die Zöglinge übertragen.

Die Benachteiligung von Mädchen in der Ausbildung ist statistisch nachweisbar. So fand eine Hamburger Studie von Ute Heinrich und Thomas Schulz Ende der 80er Jahre heraus, daß Schülerinnen die Fächer Physik und Mathematik als auch Geschichte und Politik seltener wählen als ihre Mitschüler und schlechtere Noten bekommen. Die rollenkonforme Anpassung wirkt sich nachteilig auf die Berufsorientierung aus. Eine aktuelle Untersuchung zu diesem Thema, erstellt von den Hamburger Pädagoginnen Kirsten Hagge, Hannelore Muth und Renate Schröder, zeigt, daß sich 55 Prozent der Mädchen unter 380 Berufen für die zehn Frauenberufe entscheiden: Friseuse, Bürokauffrau, Verkäuferin, Verkäuferin im Nahrungsmittelhandwerk, Industriekauffrau, Arzthelferin, Einzelhandelskauffrau, Zahnarzthelferin, Bürokauffrau und Kauffrau im Groß- und Außenhandel.

Vom Wissen, das bekanntlich Macht bedeutet, sind Mädchen zwar nicht mehr per se ausgegrenzt, doch können oder wollen sie die Chancen nicht nutzen, die sich ihnen bieten. Schon seit graumer Zeit ist deshalb die Koedukation in Verruf geraten. Die Idee von der Rückkehr zum getrennten Unterricht, zumindest in Fächern wie Mathematik, Informatik, Biologie und Chemie, gewinnt wieder mehr AnhängerInnen. Dort könnten Mädchen besser gefördet werden. Einen Beleg für diese These liefert ausgerechnet das schwarze Bayern, das mit 27 Prozent einen hohen Anteil an getrenntgeschlechtlichen Schulen besitzt. Untersuchungen haben gezeigt, daß Mädchen, die unter sich bleiben, in den Defizitbereichen wesentlich besser abschneiden.

Auch Jungen haben Defizite, die es in der Schule aufzuholen gilt. Als Paradebeispiel gilt die soziale Kompetenz, die bei Mädchen sehr ausgeprägt, bei Jungen hingegen nur rudimentär vorhanden sein soll. Doch Förderprogramme, die solche Mängel bei Schülern beheben könnten, lassen sich im Augenblick politisch nicht durchsetzen, da es sich im Gegensatz zu Qualifikationen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich nicht um ökonomisch und arbeitsmarktrelevantes Wissen handelt.

Mütter haben noch andere Ansprüche an Schule als die bestmögliche, individuelle Förderung ihrer Kinder. Laut einer Studie des Bonner Bildungsministeriums aus dem vergangenen Jahr, wünschen sich 70 Prozent der berufstätigen, aber auch 40 Prozent der nichtberufstätigen Mütter eine flächendeckende Versorgung mit Ganztagsschulen. Dabei steht natürlich die Hoffnung auf Entlastung an oberster Stelle, doch auch die Erwartung größerer Bildungschancen spielen eine nicht unerheblich Rolle. Die Versorgung mit Kindertagesheimplätzen kann diese Betreuungswünsche in keinster Weise befriedigen, sie ist bundesweit kläglich gering. Nur 5,5 Prozent der Kinder sind mit Hortplätzen versorgt. 40 Prozent aller Schulplätze, so die Studie, müßten auf Ganztagsbetrieb umgestellt werden, um den Bedarf zu befriedigen.

Doch Ganztagsschulen dürfen nicht einfach nur den normalen Schulbetrieb verlängern oder zu einer nachmittäglichen Kinderverwahranstalt werden, so die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ursula Neumann, Mitautorin einer Untersuchung mit dem Titel Ganztägige Erziehung in der Schule. Ganztagsschule dürfe nicht als Billiglösung umgesetzt werden. Das weit verbreitete Konzept, die Betreuung der Kinder durch Einstellung von ErzieherInnen sicherzustellen, greife nicht. Die LehrerInnen gingen mittags nach Hause, eine Absprache mit den ErzieherInnen über pädagogische Zielsetzungen und gemeinsame Aktionen unterbleibe häufig.

Worum in Westdeutschland mühsam gerungen wird, hat in Ostdeutschland bereits Tradition. Die ausreichend zur Verfügung stehende halbtägige oder ganztägige Betreuung der Kinder in Horten und Schulen hat den Frauen in der ehemaligen DDR die Berufstätigkeit erleichtert. Doch statt diese eindeutig positiven Errungenschaften zu bewahren und auf Westdeutschland zu übertragen, sorgten die PolitikerInnen per Einigungsvertrag für deren Demontage.

In der gemeinsamen Resolution der 360 westlichen und 40 östlichen Teilnehmerinnen des Kongresses heißt es abschließend: „Eine Gleichstellung der Geschlechter ist politisch nicht gewollt. Die nahezu völlige Streichung aller Maßnahmen wie Einstellungsgarantie nach der Ausbildung, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Ganztagsschulen bedeuten eine neuerliche Zementierung der konservativen familiären Rollenzuweisung, die Frauen in den reproduktiven Bereich binden will.“ Zurück blieb allerdings eine gewisse Ratlosigkeit ob der politischen Durchsetzungsfähigkeit der frauenpolitischen Interessen. Nur eines war klar: Langer Atem und zähe Bewußtseinsarbeit reichen für durchgreifende Veränderungen nicht aus.

Die Interessen der PädagogInnen aus den fünf neuen Bundesländern wurden während des Hamburger Kongresses nicht explizit berücksichtigt. Die Seminare dienten den Frauen Ost allenfalls dazu, sich einen Eindruck von den westlichen Verhältnissen zu verschaffen. Ihre westlichen Kolleginnen wußten indes wenig über die Situation an den Schulen der ehemaligen DDR. Beim nächsten Frauen und Schule Kongreß 1992 in Berlin stehen die Chancen hoffentlich günstiger, den west-zentrierten Blick etwas gen Osten zu verschieben.