: Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg der UNO
Der Golfkrieg hat die Möglichkeiten der UNO zur internationalen Streitschlichtung nicht zerstört — aber Reformen sind nötig ■ Von Christian Semler
Vor dem Golfkrieg hatte die UNO drei gute Jahre gehabt. Ein UNO- Kontingent aus mehr als 100 Staaten mit dem unscheinbaren Namen „Untag“ unterstützte den Weg Namibias in die Unabhängigkeit. UNO-Beobachter wachten über die Einhaltung des Waffenstillstands zwischen Irak und Iran. In der Westsahara, in Mittelamerika und in Kambodscha schienen die guten Dienste de Cuellars Früchte zu tragen. Selbst die hartnäckigsten Probleme wie der israelisch-palästinensische Konflikt galten jetzt als lösbar. Die UNO, eben noch als Konglomerat parasitärer, ineffizienter und unverschämt teurer Bürokratien verschrien, erfreute sich einer plötzlichen weltweiten Beliebtheit als Friedensstifterin.
Entscheidend zu diesem Meinungsumschwung hatte die Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik, das „Neue Denken“ beigetragen. Gorbatschow selbst hielt 1988 vor der Generalversammlung eine schöne Rede. Ohne vom Begriff der Weltgesellschaft Gebrauch zu machen, unterstellte er ihn doch mit seiner Forderung, die internationale Staatengemeinschaft müsse endlich ihrer Verantwortung angesichts globaler Bedrohungen gerecht werden. Die Sowjetunion stellte ihre Kooperation überall dort in Aussicht, wo internationale Krisen gemäß dem Völkerrecht unter der Ägide der UNO beigelegt werden sollten. Dabei bejahte sie — als letzte Zuflucht — auch den Einsatz militärischer Zwangsmittel unter UNO-Kommando. Gorbatschows Strategie, den drohenden Verlust sowjetischer Supermachtsgeltung mit Hilfe einer umgestalteten UNO aufzufangen, deckte sich im Ergebnis mit den Anschauungen des UNO-Generalsekretärs. De Cuellar forderte eine Sicherheitsprophylaxe: Mehr Geld und mehr Truppen für UNO-Kontingente, die auch auf Antrag nur einer der möglichen Konfliktparteien eingreifen, beobachten und „abkühlend“ wirken sollten. Er ließ sich dabei von der ebenso trivialen wie richtigen Einsicht leiten, daß es immer leichter ist, den Ausbruch von Kriegen zu verhindern, als deren Ende herbeizuführen. Das internationale vorbeugende Sicherheitssystem der UNO sollte sich auf „Subsysteme“ wie die KSZE stützen. Diese regionalen Systeme wurden nicht als Konkurrenz zur UNO begriffen sondern als deren notwendiger Unterbau. Sie galten als Ausdruck des Wandels von der zweipoligen zur multipolaren Welt.
Moskau ließ zu, daß die USA freie Hand erhielten
Der Golfkrieg spitzte diese Problematik zu, beschädigte aber gleichzeitig die in der UNO-Diskussion vorgezeichneten Lösungswege. Es waren die USA und ihre engsten Verbündeten, nicht die UNO, die über Ausmaß und Zeitpunkt einer militärischen Intervention bestimmten. Die regionalen Sicherheitssysteme, der Golf-Kooperationsrat und die Arabische Liga, erwiesen sich als zu schwach, um wirksam zu vermitteln. Die Anti-Saddam-Koalition aber trat, wie de Cuellar bitter bemerkte, ihren Siegeszug nicht unter dem Banner der UNO an. Die Hauptverantwortung für diese Entwicklung trifft die Sowjetunion. Statt ihre Zustimmung zur Intervention im Sicherheitsrat an den Aufbau einer authentischen UNO-Streitmacht zu binden, ließ sie die USA gewähren — teils weil sie dem Verhältnis zu den Amerikanern eine höhere Priorität beimaß, teils, um im Gegenzug freie Hand für heimische „Befriedungsaktionen“ zu erhalten.
Es war das erste Mal, daß der Sicherheitsrat die ihm von der UNO- Charta eingeräumte Möglichkeit ergriff, mit militärischen Mitteln gegen einen Agressor vorzugehen. Im Korea-Krieg hatten die USA den Sicherheitsrat und damit das sowjetische Veto dadurch umgangen, daß sie die Generalversammlung anriefen, wo sie über eine sichere 2/3 Mehrheit verfügten. Sie erwirkten einen Beschluß, der zur freiwilligen Teilnahme am Feldzug gegen die nordkoreanische Invasion aufrief. In keiner Phase des Krieges spielte die UNO irgendeine Rolle. Später, als sich durch die Entkolonialisierung die Mehrheitsverhältnisse in der Generalversammlung unwiderruflich änderten, setzten die Westmächte auf den Generalsekretär ihrer Wahl. Die unrühmliche Expedition von UNO-Truppen im Kongo war das Ergebnis. Bis Januar 1991 traten danach UNO-Sicherheitskräfte nur noch als „Puffer“ und Beobachter in Aktion, dies in der Ära de Cuellar mit zunehmendem Erfolg.
Hat die USA-orchestrierte Intervention zur Vertreibung Saddams aus Kuwait den Plänen einer eigenständigen UNO-Streitmacht den Garaus gemacht? Ist es den Vereinigten Staaten mit Hilfe eines späten Karrieresprunges doch noch gelungen, Weltgendarm zu werden? Zweifel sind angebracht. Die allzu schnelle Rede von der „Pax Americana“ vergißt, daß die USA zwar über jede Menge Waffen gebieten, sie aber weder politisch noch ökonomisch in der Lage sind, weltweit hegemonialen Einfluß auszuüben. Selbst bezogen auf die Golf-Region können die USA nur mit Hilfe der arabischen „Mittelmächte“ und des Iran, d.h. aber auch unter Berücksichtigung von deren Interessen auf stabile Verhältnisse hoffen. Es ist gerade die Tendenz zur Regionalisierung, die für Mittlerdienste der UNO und den Einsatz von UNO-Truppen günstige Voraussetzungen schafft. Notwendig wäre freilich, daß die Sowjetunion wieder zu ihrer bis Herbst 1990 verfolgten Linie zurückkehrt.
Es ist an der Zeit, eine Debatte über diejenigen Strukturreformen zu führen, die die UNO in der Lage versetzen würden, ihrer Friedensmission nachzukommen. Dafür gibt es Vorarbeiten wie die von Marc Nerfin, der eine Dreiteilung der UNO in eine verkleinerte politische Versammlung, in ein Wirtschaftsgremium und in eine Vereinigung der „Nongovernmental Organisations“ vorschlägt. Ziel solcher Reformen wäre, für eine global gerechtere Verteilung des Reichtums bessere organisatorische Voraussetzungen zu schaffen und damit zu helfen, Kriegsursachen zu beseitigen. Auch die Reorganisation des Sicherheitsrates, der den Status Quo von 1945 widerspiegelt, steht auf der Tagesordnung. All dies zu verwirklichen, wird viel Zeit kosten. Für den Augenblick ist die Forderung realistisch, die Position des Generalsekretärs angesichts zwischenstaatlicher Konflikte zu stärken und für Friedensmissionen der UNO eine generelle, obligatorische Finanzierung durch die Mitgliedsstaaten einzuführen. Ein Minimalprogramm, gewiß, aber vielleicht ein Weg aus der Sackgasse, in die die UNO nach dem in ihrem Namen geführten Krieg geraten ist.
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