Sowjetische Juden als »obdachlose Touristen«

■ Bleiberecht und Integrationshilfe können nur die sowjetischen Emigranten erhalten, die vor dem 15. Februar eingereist sind

Berlin. Wochenlang bemühten sich Igor und Tatjana P. aus Belorußland bei den sowjetischen Behörden um ein Besuchervisum für Deutschland. Anfang Februar waren die Hürden der sowjetischen Bürokratie endlich überwunden.

Igor und Tatjana P. erhielten für sich und ihre beiden Kinder den begehrten Stempel in den Auslandspaß. Die Inlandspässe mit dem Vermerk »Juden« hatten sie im Reisegepäck, um der deutschen Bürokratie beweisen zu können, daß sie ein Recht auf Aufnahme haben. Am 12. Februar hätte die Reise losgehen können, doch es gab nicht genügend Zugfahrkarten. Nur eine einzige. Die nahm Igor P. Er wollte in Berlin einen Bleibeantrag für alle stellen, sagte er, die Familie sollte umgehend nachkommen.

Doch seine Frau konnte erst am 3. März Zugfahrkarten ergattern. Als die Familiennachzügler endlich nach strapaziöser Reise im Aufnahmebüro des Landessozialamtes (LaSoz) in Marienfelde auftauchten, erfuhren sie eine böse Überraschung. Sie könnten in Berlin nicht bleiben, hörten sie, sie seien zu spät gekommen, denn aufgenommen würden nur die Juden aus der Sowjetunion, die vor dem 15. Februar aus der UdSSR ausgereist sind.

Seitdem ist Igor P. — rein rechtlich gesehen — mit einer obdachlosen Touristin verheiratet. Er, der »rechtzeitig« eingereist ist, erhielt über das LaSoz einen Wohnheimplatz in Spandau. Tatjana P. und die beiden Kinder aber haben, weil sie sechzehn Tage »zu spät« kamen, weder Anspruch auf Bett noch Brot. Tagsüber dürfen sie sich als Besucher beim Ehemann im Spandauer Wohnheim aufhalten, bei Anbruch der Nacht müssen sie gehen, so will es die Heimordnung. Tatjana P. und die Kinder schliefen mehrere Nächte auf dem Bahnhof, jetzt sind sie irgendwo untergekrochen. Die Spandauer Bezirksrätin Renate Mende (SPD) hat beim zuständigen Staatssekretär der Sozialverwaltung, Armin Tschoepe, um eine positive Einzelfallentscheidung gebeten. Noch ist sie aber nicht gefallen.

Um die jüdische Familie kümmert sich auch Klaus Pritzkuleit vom neugegründeten Beratungsbüro für jüdische Einwanderer in der Breiten Straße 35. Offiziell noch gar nicht eröffnet, wird das Büro seit Wochen mit Fällen wie diesem konfrontiert. Das Büro ist eines der drei Projekte, die die kürzlich gegründete Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA) in Ost-Berlin initiiert hat. Eigentlich soll sich die Beratungsstelle um die Integration der sowjetischen Juden in Berlin bemühen. Jetzt aber müssen ständig Probleme geklärt werden, die alle nur eine Ursache haben: das Ende Januar erlassene Kontingentsflüchtlingsgesetz. Wer »fristgerecht« eingereist ist, darf auf Intergrationsbeihilfen hoffen, wer »zu spät« kommt, muß mit dem Rausschmiß rechnen. Auch Ausreiseanträge für Familiennachzügler können nur in der UdSSR gestellt werden — eine monatelange Prozedur.

In der Luft hängen auch Marek S., seine Frau und die zweijährige Tochter. Seit dem 28. Januar sind die drei glückliche Besitzer von gültigen Touristenvisa. Die Fahrkarten Moskau-Berlin erhielten sie am 11. Februar. Hätten sie sich sofort in den Zug gesetzt, hätten sie in Deutschland das Bleiberecht erhalten. Doch die Tochter wurde schwerkrank und neue Fahrkarten erhielt die Familie am 10. März — zu spät für die deutsche Bürokratie. Das LaSoz wies sie ab. Zwei Nächte lang schliefen die drei auf dem Bahnhof, dann erbarmte sich die Heimleiterin des von der Arbeiterwohlfahrt geführten Notaufnahmeheims in Hessenwinkel und nahm die Familie gegen einen Tagessatz von insgesamt 30 DM auf — bis Mittwoch. Keiner weiß, wo sie heute nacht schlafen werden.

Zurück können und wollen sie auf keinen Fall. Die Moskauer Wohnung ist aufgegeben, die Arbeitsstellen gekündigt. Jetzt, so glauben sie, kann ihnen nur noch einer helfen: Klaus Pritzkuleit, der im Paragraphendschungel des Kontingentsflüchtlingsgetzes nach einem Ausweg für Marek. S., Tatjana und Igor P. und Dutzende andere sucht. Pritzkuleit sieht nur einen Ausweg: Die Konferenz der Innenminister muß den restriktiven Zeitrahmen des Kontingentsflüchtlingsgesetzes nachbessern. Anita Kugler