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Bis auf weiteres keine Rotkappensuppe mehr

In zehn bis fünfzehn Jahren sollen im Gebiet um die Wismut Absetzteiche getrocknet, Schächte geflutet, Gebäude abgerissen und mit einer Erdschicht bedeckt sein/ 5,5 Milliarden Mark soll das alles kosten/ Wismut-Pressesprecher Runge kennt Schätzungen vom zehnfachen Betrag  ■ Von Ina Kerner

Ronneburg. Familie Zenker wandert los. Sonntagnachmittags-Spaziergang. Diesmal haben die Zenkers Messer und ein Körbchen dabei. An einem Hang finden sie Pilze. Zum Abendessen wird es Rotkappensuppe geben. Familie Zenker wohnt in Ronneburg, nicht weit von Gera. Die Hügel in der Gegend wirken von weitem wie Pyramiden. Sie sind trauriges Wahrzeichen der Wismut AG: Die Zenkers haben ihre Pilze auf einer Uranerzhalde gesammelt.

So wie die Zenkers leben die meisten Menschen in der Uranbauregion, die sich über 12.000 Quadratkilometer im Süden der ehemaligen DDR erstreckt. Die radioaktive Strahlung gehörte schon zum Alltag der erzfördernden Großeltern. Hundert Meter hohe Uranhalden, zu deren Füßen Kühe weiden, gab es damals jedoch noch nicht. Sie sind Zwischenergebnis des größten Uranabbaubetriebes Europas, 1946 als sowjetische Aktiengesellschaft und Grundlage der russischen Atombomben gegründet. In den Fünfzigern wurde die AG sowjetisch- deutsch und belieferte bald Atomreaktoren. Die Wismut war ein weißer Fleck auf der Landkarte, wissen die BewohnerInnen der neuen Länder. Informationen nach außen flossen nicht. Teichgroße Uranabsetzbecken, riesige Erzmühlen, zahlreiche Schächte und viele tausend Beschäftigte wurden von der werkseigenen Polizei und Stasi bewacht. Die Wismut hatte eine eigene Parteileitung, Lebensmittelversorgung und eigene Siedlungen. Sie förderte 220.000 Tonnen Uran und war ein Staat im Staate — ein verstrahlter. Die Wohnorte der Bergleute wurden durch unschöne Beinamen bekannt: Oberrotenbach als „das müde Dorf“, weil eine Uranschlammleitung zum nahen Absetzbecken Crossen hindurchgelegt ist. Die BewohnerInnen fühlen sich selten wach. Schneeberg durch die „Schneeberger Krankheit“, Lungenkrebs, der in der Kleinstadt mit mehreren ehemaligen Tiefbauschächten und deshalb besonders hoher Radonbelastung häufige Todesursache ist. Fünf Jahre geringer als der FNL-Durchschnitt ist die Lebenserwartung der Wismut-ArbeiterInnen, schätzen MedizinerInnen. Jedes Jahr sterben 200 bis 250 Menschen an Krebs. In Wohnhäusern zwischen Schneeberg und Gera stellte die Meßstelle Strahlentelex bis zu 300fach höhere Radonwerte als in Berlin fest, dutzendfach mehr Radioaktivität als der vorgeschriebene Höchstwert wurde in Schneeberger Küchen gemessen. Um Emigrationswellen vorzubeugen, entschädigte die Wismut materiell: mit höheren Löhnen, besseren Wohnungen, moderneren Krankenhäusern, steuerfreiem Schnaps. Die BewohnerInnen der Region hatten keine Wahl: Der Uranbetrieb hatte das Arbeitsplatzmonopol in der Gegend. Den Menschen, wie der fiktiven Familie Zenker, blieb der Zwangsoptimismus beim Pilzefinden.

Rotkappen dürfen auf den Abraumhalden seit kurzem nicht mehr geerntet werden. Doch die positive Sicht der Situation ist immer noch angesagt. Als Bundesumweltminister Klaus Töpfer im Oktober der Aufbereitungsanlage Seelingstädt seinen Besuch abstattete, warnte er „vor einer Rufschädigung der Region“. Die aktiven BürgerInneninitiativen, die die Beschönigung der Situation satt haben, traf der Minister nicht. „Das kann durchaus an zeitlichen Gründen gelegen haben“, wiegelte man dazu im Umweltministerium ab. Töpfers Parlamentarischer Staatssekretär Bertram Wieczorek besichtigte die Uranabsetzbecken ein halbes Jahr später. „Es gibt ganz andere Standorte mit ganz anderen Problemen“, sagte er. Beim Blick in die „nahe Zukunft“ der Gegend freute er sich an einer „neuen Ausstrahlung der Region“. Statt der Zusammenarbeit mit unabhängigen Umwelt- und Forschungsinstituten beschwor der Mann aus Bonn den „regen Erfahrungsaustausch mit Unternehmen aus den USA, Frankreich und Kanada“. Landrat Wilsdorf aus Gera verbreitet, „die Wismut hat keine Auswirkungen auf die Landwirtschaft“. Im Umweltministerium ist man derselben Meinung, doch Gerhardt Schmidt vom Öko-Institut in Darmstadt berichtet von „gravierenden Auswirkungen“ durch Öffnungen alter Schächte mitten auf den Feldern, aus denen Radon strömt. Seelingstädts Bürgermeister Vogel beklagt einen „gewissen Rufmord“ durch die sensationsheischende Westpresse. Boulevardberichterstattung über die Gefahren des Radons bedauert zwar auch Schmidt, jedoch deshalb, weil die großen Probleme der Gegend seitdem nicht mehr erst genommen würden.

„Die Hinterlassenschaft des Uranbergbaus in Thüringen und Sachsen nach seiner Einstellung Ende 1990 wird riesig sein, in geologischer Hinsicht werden das Millionen Kubikmeter leicht bis mittelschwer kontaminierte Berghalden, hochgradig kontaminierte Schlammabsetzbecken, offene Tagebauminen sowie kilometerlange Untertagebaustrecken und eine Gefährdung des Grundwassers sein“, sagte der Geologe Thomas Siepelmeyer bei einer Urantagung im September in Ronneburg. Georg Löser vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) referierte die Folgen von Uranbergbau und -aufbereitung: „Radioaktivität ist nicht das einzige Umweltproblem: Blei, Quecksilber, Kadmium, Arsen, Selen, Vanadium und andere meist giftige Stoffe sowie übermäßige Eisen- und Kupfermengen werden freigesetzt. Zu hohe Aufnahme von Schwermetallen durch Nahrung und Trinkwasser ist bekannt im Zusammenhang mit Schädigungen der Nieren und anderer Organe, mit Erkrankung des Nervensystems und des Gehirns, mit Knochenschädigung, mit Schädigung des ungeborenen Lebens.“ Langzeitige Belastungen führen zu Schlafstörung und Übelkeit. Die Uranaufbereitungsanlagen produzieren riesige Atommüllmengen. Pro Tonne verarbeitetes Uranerz sind es laut Löser eine knappe Tonne feste, zwei Tonnen flüssige Abfälle. Sie enthielten fast die gesamte Radioaktivität des Uranerzes, Schwermetalle und Chemikalien aus dem Aufbereitungsprozeß. Im Bundesumweltministerium kümmert man sich nicht sehr um Nebenerscheinungen und Strahlung außerhalb der Schächte. Die Kumpel unter Tage seien die einzigen wirklich belasteten, heißt es dort. Zum Schwellenwert für radioaktive Belastung wurden im Ministerium für Reaktorsicherheit 250 Becquerel pro Kubikmeter gemacht. Eine internationale und eine EG-Komission hatten für Neubauten 200 Becquerel empfohlen.

Auch die Wismut-Führungsriege spricht gern von der gesundheitsstiftenden Wirkung geringer Konzentrationen der Uranzerfallsprodukte. „In der ehemaligen DDR glauben alle an eine Schwellendosis, unterhalb derer keine Wirkung festzustellen ist“, meint dazu Gerhard Schmidt. Er selbst hält auch eine niedrige Strahlenbelastung für gefährlich. Die britischen Wissenschaftler Henshaw, Eatough und Richardson führen nicht nur Lungenkrebs, sondern auch Leukämie, Nierenkrebs und Kinderkrebs auf Radon zurück.

Großflächige Strahlenmessungen fordert Ludwig Trautmann-Popp vom BUND Bayern, um die Bedrohung in der Wismut-Region richtig einschätzen zu können. Statt derartige Untersuchungen anzuleiern, beschränkt sich das Umweltministerium auf Sofortmaßnahmen. Für 2,5 Millionen Mark wurden die Strände der Absetzbecken mit einer Erdschicht bedeckt, um radioaktive Uranerz-Staubwolken zu vermeiden. Schwarz und gesundheitsbedrohend waren sie bei jedem stärkeren Wind aufgewirbelt und in die naheliegenden Orte geweht worden. Sechs Millionen Mark stellte Töpfer für die Sanierung von 80 besonders belasteten Häusern in Schneeberg zur Verfügung. Dort sind die Wohnungen besonders stark belastet: Der ehemalige Ausgang zu einem Bergwerk liegt gleich in der Nachbarschaft, und viele alte Häuser sind aus uranhaltigem Stein gebaut. „Soforthilfen greifen nicht sehr weit. Im Blick auf eine Sanierung auf ewige Zeit muß die Bundesregierung mal Farbe bekennen“, ist Trautmann- Popps Meinung. Eine Erklärung für fehlende Bonnner Initiativen hat er auch: Durch den Einigungsvertrag ist das bundesdeutsche Strahlenschutzgesetz für das Gebiet der ehemaligen DDR erst einmal außer Kraft gesetzt.

Die Wismut arbeitet derzeit zusammen mit Firmen wie Steag und Cogema an einem neuen Sanierungskonzept, das Mitte des Jahres fertig sein soll. In zehn bis fünfzehn Jahren sollen die Absetzteiche getrocknet, die Schächte geflutet, die Gebäude abgerissen und alles mit einer Erdschicht bedeckt sein. 5,5 Milliarden Mark soll das ganze kosten. Aber selbst Wismut-Pressesprecher Werner Runge kennt Schätzungen vom zehnfachen Betrag und weiß von zweistelligen Milliardensummen, die im Bundestag diskutiert wurden. Nach derzeitigem Verhandlungsstand will die Sowjetunion ihren Unternehmensanteil von 1,4 Milliarden Mark an die Bundesrepublik übergeben, die dafür alleine für die Sanierung aufkommen soll.

„Die Uranvorkommen in Südostdeutschland sind das größte Problem, das ich bisher gesehen habe“, sagte der amerikanische Sanierungsexperte Paul Robinson bei einem Besuch in Bonn. Da in Europa Richtlinien für die Sanierung fehlen, sei es besonders schwierig, Konzepte zu entwickeln. Diese Einschätzung teilt auch die Hamburger Greenpeace- Aktivistin Ingrid Reinecke. Die Erfahrungen mit der Sanierung von Uranbaubetrieben sind ihrer Meinung nach außerordentlich unbefriedigend.

Gerhard Schmidt vom Öko-Institut hält drei Dinge bei der Sanierung für besonders wichtig: die langfristige technische Stabilität der Bauwerke, das Problem der Auslaugung von Radionukliden in Boden und Luft und die Schwermetalle im Uranerz. Auslaugung und Schwermetalle sieht Schmidt in den bisherigen Sanierungsentwürfen „langfristig unterbelichtet“. Radionuklide, die sich nach unten in den Boden lösen, würden ignoriert, die Maßnahmen seien auf kurze Zeiträume gerichtet, wo doch für 2.000 Jahre, anstatt wie bei Sondermüll für lediglich ein Jahrhundert, vorgesorgt werden müsse. „Man geht bisher nicht mit den richtigen Gedanken an die Sanierung heran. Die gängige Sichtweise ist: Wie kann man den Haufen plattwalzen und abdecken? Das ist zu kurzsichtig gedacht“, kritisiert Schmidt. Statt dessen müsse bei jedem Standort der Boden untersucht werden: „Ist der Boden nicht dicht, kann der Uranerzhaufen da nicht liegenbleiben. Aber da gibt es ein Denkverbot. Abraumschlamm wegfahren ist tabu. Der Boden wird statt dessen gesundgebetet.“ Schmidt fordert, eine riesige Aufnahme zu machen von sämtlichen auftretenden radioaktiven Belastungen. Neben Bodenmessungen müsse man mit alten Menschen in der Region reden: Sie wüßten, an welchen Stellen unvermutet Erzhaufen vergraben liegen. Denn manchmal seien sowjetische Laster durch die Dörfer gedonnert und umgekippt. Die radioaktive Ladung habe man am Straßenrand zugeschaufelt. „Wenn man nur das tut, was die Wismut bisher plant, wird das ein oberflächliches Aufräumen“, sagt Schmidt. Auch Trautmann-Popp sieht das Langzeitproblem in der Abdichtung nach unten: „Im Moment ist noch sehr unklar, wie man das sanieren kann.“

Heidi Hemmann aus Großkundorf, einem Ort nahe der Absetzanlage Culmitzsch, erkennt „keine große Zufriedenheit unter der Bevölkerung“. Durch die Strahlenbelastung fühlt sich die Frau aus der Radon-BürgerInneninitiative „schon bedroht“. Sie glaubt nicht, daß ihre NachbarInnen froh in die Zukunft blicken. Doch den Kommunen im Wismut-Gebiet, die aktiv sein und die Strahlenbelastung messen wollen, fehlt dazu das Geld. Hemmann beklagt die mangelhafte Informationspolitik der Wismut: „Die arbeiten wieder hinter unserem Rücken.“ Auch Ingrid Reinecke erkennt ein Interesse der Wismut an „möglichst wenig Öffentlichkeit“. Vertrauenswürdige Meßergebnisse seien nicht veröffentlicht worden. Ludwig Trautmann-Popp mußte feststellen, daß der Datenfluß zwischen dem Urankonzern und dem Naturschutzbund abgerissen ist, „seit Töpfer und seine Mannen das Sagen haben“.

Fehlinformiert durch die Wismut fühlte sich Ingrid Reinecke schon vor dem 3.Oktober. „Im Tagebau ist natürlich grundsätzlich nur Material eingelagert, das als Abraum einzuschätzen ist, kein Müll, kein Sondermüll“, sagte Wismut-Geschäftsführer Rudolf Daenecke bei der Ronneburger Tagung im September. Greenpeace erstattete Strafanzeige: gegen wildes Abkippen von Giftmüll auf der Zentralabraumhalde Lichtenberg. Bei seinem Besuch in Seelingstädt Anfang März verkaufte der Parlamentarische Staatssekretär Wieczorek es dann als Verdienst der Bundesregierung, daß „eine weitere Ablagerung von Sondermüll auf der Haupthalde, wie das in der Vergangenheit geregelt war“, inzwischen gestoppt wurde. Die Wismut hatte zugeben müssen, daß asbesthaltiger Bauschutt und chemische Abfälle auf die Halde gekippt worden waren.

Nicht nur die Giftmüll-Lagerung soll aufhören bei der Wismut. Auch über die Hälfte der Beschäftigten muß oder mußte gehen. Damit sie das tun, zahlt das Unternehmen Abfindungssummen zwischen 15.000 und 20.000 Mark, schickt in den Vorruhestand und setzt auf Kurzarbeit Null. Zwei Gesellschaften für Arbeitsförderung wurden ebenfalls gegründet: In Ostthüringen sollen 5.000, in Westsachsen 3.000 Kumpel „zielgerichtet auf neue Berufe umgeschult“ werden. Dennoch werden mehrere tausend Wismut-Angestellte ohne Rente oder ABM auf der Strecke bleiben.

Ohne Job und mit ruinierter Gesundheit werden die ehemaligen Wismut-Kumpel ebensowenig in ihre Krankenakten einsehen können wie ihre ehemaligen KollegInnen, die weiterbeschäftigt werden. Das betriebseigene Archiv für Berufskrankheiten — mit 5.132 anerkannten Krebsfällen und 14.557 Staublungen mit tödlichem Ausgang zwischen 1952 und 1988 — und 600.000 Krankenakten werden jetzt von der Wismut-Abteilung Gesundheitsdatensicherung verwaltet. Unter der Kontrolle des Bundesamtes für Strahlenschutz in Salzgitter läßt Töpfer die Akten auswerten. BürgerInneninitiativen oder BetroffenensprecherInnen sichten nicht mit.

Biegt man von der schmalen, geraden Landstraße bei Ronneburg rechts in die Einfahrt zur Uranaufbereitungsanlage Seelingstädt ab, muß man entweder die Augen schließen oder müde resigniert lächeln. Auf zwei hohen Pfeilern ist in der Kurve ein Hinweisschild angebracht. „SDAG Wismut“ steht in großen Lettern darauf. Und darunter: „Neues Denken, neues Handeln“.

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