DOKUMENTATION
: Geschossen hatte der KGB

■ Eine russische Bürgerrechtsgruppe klärt die Hintergründe des Sturms auf das Fernsehzentrum in Vilnius auf/ Damals starben 14 Menschen

Die Dokumentation, aus der wir hier Teile veröffentlichen, wurde von der Gruppe „Rote Zone“ in der südwestlich von Leningrad gelegenen Stadt Pskow nach Gesprächen mit Soldaten zusammengestellt, die beim Sturm auf den Fernsehturm in Vilnius eingesetzt waren. Die Mitglieder der Gruppe gehören gleichzeitig dem Kommitee „Helsinki '92“ an und bezeichnen sich als „radikale Grüne“.

Ausgangssituation:

Aus unseren Ermittlungen geht hervor, daß die Presseerklärung des Komandeurs der Vilniuser Garnison, Uschoptschik, daß es seine Panzer waren, die in der betreffenden Nacht vor dem Fernsehturm in Vilnius standen, eine eindeutige Desinformation darstellt. An ihren Ketten haftet kein Blut. (Unter den Ketten eines Panzers starb in jener Nacht die 23jährige Loretta Asanavicius, zwei weitere Personen wurden von gepanzerten Truppentransportern überrollt.) Die Blutflecken muß man auf Panzern in Pskow suchen. Dort ist die Tschernigower Fallschirmjäger- Division stationiert, von der Teile früher im Zuge spezieller Befriedungsaktionen eingesetzt wurden: 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1979 in Afghanistan. Unterabteilungen dieser Division sind in den letzten Jahren an sogenannten „Brennpunkten“ eingesetzt worden: in Osch, Ferghana, Baku und anderswo. 1989 kam es zu ersten Kontakten zwischen Soldaten dieser Einheit und demokratischen Gruppen in Pskow.

Nach dem 9. Dezember letzten Jahres war es zu unerklärlichen Truppenverlegungen in die Nähe von Moskau gekommen, die auch die Pskower Fallschirmabteilungen betrafen. In den offiziellen Erklärungen war von Manövern die Rede. Verteidigungsminister Jasow gab eine Erklärung ab, daß die Soldaten bei der Ernte helfen sollten. Pustobajew äußerte in diesem Zusammenhang den Verdacht, daß sein Regiment zur Vorbereitung eines Militärputsches mißbraucht werden sollte: „Dieses Manöver ist insofern eigenartig“, schrieb er damals, „als die dafür notwendige Karte, das Ziel und die Aufgabenstellung nur dem Verteidigungsminister bekannt waren. Das erstaunliche Mißtrauen des Oberkommandos gegenüber Einheiten mit derart hoher Kampferfahrung läßt den Schluß zu, daß Verteidigungsminister Jasow die eigentliche Zielsetzung absichtlich verschleiert.“

Die Tragödie von Vilnius

Major Pustobajew sollte in einer Hinsicht Recht behalten: den Fernsehturm von Vilnius erstürmte dieselbe Truppeneinheit, die im Herbst „in die Kartoffeln“ geflogen war... Anfang Dezember 1990 waren in Teilen der Tschernigower Fallschirmjäger-Division (WDW) Gerüchte über einen für Ende März/Anfang April geplanten Militärputsch verbreitet worden, wobei unbekannte Anführer versprochen hätten, Jasow und einige andere Regierungsmitglieder abzusetzen, hingegen sollte Gorbatschow gemäß diesem Plan seinen Präsidentenposten behalten. Als eines der Hauptziele des Putsches wurde der Sturz der nationalen Regierungen im Baltikum und eine blutige Abrechnung mit den Nationalisten genannt. Möglicherweise diente dies der Vorbereitung der jüngeren Offiziere auf die Januarereignisse.

Die Verlegung der Fallschirmjäger aus der in Pskow stationierten 76. Gardedivision der WDW erfolgte am 8. Januar unter dem Vorwand, es gehe um die Befolgung des Ukas über die Einhaltung der Wehrpflicht in Litauen. Den Befehl, zum Fernsehturm der litauischen Hauptstadt vorzurücken, erhielten die Fallschirmjäger in einem 60 Kilometer von Vilnius entfernten Lager. In einem Interview mit der Pskower 'Profsojusnaja Gazeta‘ vom 15. Januar versicherte der Redakteur der Garnisonszeitung, Pawel Dmitruk, daß nicht bekannt war, woher dieser Befehl kam. Die Truppen der Vilniuser Garnison selbst blieben in dieser Nacht in den Kasernen. Bei der Ankunft stellten sich Teile des 34. Tschernigower WDW-Regiments zum Sturm auf das Fernsehzentrum und den Fernsehturm auf. Sie erhielten keine Instruktionen über Kampfhandlungen gegen die friedliche Bevölkerung. Das Mitglied der Aufklärungsgruppe des 34. Regiments, Sergej Konowalow gab zu Protokoll, daß man im Zuge der Verschärfung der Nahkampfhandlungen begann, auf die Leute mit Gewehrkolben einzuschlagen. Später wurden an den Gewehrkolben Hautfetzen und Blutflecken entdeckt.

Vor den Fallschirmjägern schritten KGB-Offiziere von der Spezialabteilung „Alpha“, die sofort das Feuer mit scharfer Munition eröffneten. Einer der „KGBler“, Leutnant Schatzkich, wurde von jemandem aus den eigenen Reihen erschossen, möglicherweise, weil er selbst auf Soldaten aus der Fallschirmdivision geschossen hatte. In den ersten Meldungen wurde er als „Fallschirmjäger aus Pskow“ bezeichnet. In seinem Interview widerlegte Major Dmitrjuk dies allerdings und betonte, daß der Ermordete eine Uniform der Truppen des Innenministeriums getragen habe, die an eine Fallschirmjägeruniform erinnere. Im Gegensatz zu den Fallschirmjägern, hatte Schatzkich keine Panzerweste getragen. Bis heute bleibt ungeklärt, durch wen die drei Fallschirmjäger verwundet wurden, die nach diesem Sturm tatsächlich aus Vilnius nach Pskow zurückkehrten...

Aus den in Vilnius abgehörten Militärfunkgesprächen in der Nacht vom 12. zum 13. Januar ergibt sich, daß die „Handlungen“ der Fallschirmjäger und der Spezialgruppe des KGB nicht aufeinander abgestimmt waren, und auch, daß die Kommandeure der ersteren nur im letzten Moment den Befehl erhielten, über die Teilnahme des KGB an der Aktion nichts verlauten zu lassen. Im Gespräch mit uns versicherten die Fallschirmjäger wiederholt, sie hätten in jener Nacht überhaupt keine scharfe Munition erhalten, und der Befehl, Panzerwesten anzulegen, sei allein mit den Härten eines möglichen Nahkampfes begründet worden. Wieweit dem Glauben zu schenken ist, wissen wir nicht. Fest steht, daß die Maschinengewehre der Pskower Division schon am nächsten Tag nur mit Platzpatronen geladen waren. Der Beschuß der Menge erfolgte, ihren Angaben zufolge, allein seitens der Mitarbeiter des KGB. Acht Zivilpersonen kamen durch Schüsse aus 5,45-kalibrigen Waffen zu Tode, durch eine identische Kugel starb auch Schatzkich, der Autopsie zufolge, allerdings wesentlich früher...

„Capital-Show auf dem Feld der Wunder“

„Pskower Capital-Show auf dem Vilniuser Feld der Wunder“, überschrieb — in Anlehnung an eine beliebte Glücksspielsendung des sowjetischen Fernsehens — die Pskower 'Profsojusnaja Gazeta‘ einen Artikel über die Plünderung des Vilniuser Tele-Zentrums durch die Fallschirmjäger, ein Vorgang, der unter den Soldaten selbst einen heftigen Konflikt auslöste...

Nachdem sie entdeckt hatten, daß das technische Gerät ungeschützt herumstand, begannen Offiziere und Soldaten Fernsehgeräte, Rekorder, Mikrophone und Verbindungskabel herauszuschleppen und in die Panzerwagen zu verladen. Die an dem Diebstahl beteiligten Soldaten wurden dann von Offizieren, die die Beute in ihren Wohnungen versteckten mit kleinen Summen von zwanzig bis vierzig Rubel abgefunden. Die Information verbreitete sich sofort unter den Teilen der Pskower Bevölkerung, die den Soldaten nahestehen. Ende Januar stellte sich heraus, daß zwei von den gestohlenen Mikrofonen durch einen Offizier dem Leiter einer Band, die im Hotel-Restaurant „Rischskaja“ spielt, umsonst überlassen wurden. Zwei andere, aus der BRD, wurden durch einen Mittelsmann verkauft. Auf dem Pskower Schwarzmarkt tauchte schließlich auch eine aus Vilnius abgeschleppte Videokamera auf, für die ein Preis von 15.000 Rubel gefordert wurde. Diesen Handel gelang es zu verhindern.

Nachdem die 'Profsojusnaja Gazeta‘ am 4. Februar über dies alles berichtet hatte, erhielt ihr Chefredakteur schon am nächsten Tag einen Anruf vom Kommandeur des 34. Fallschirmjäger-Regimentes, Oberstleutnant Komar. Dieser drohte seine Soldaten zu schicken, um mit der Redaktion „das gleiche anzustellen, wie mit dem Vilniuser Telezentrum“.

Am 5. März wandte sich eine unlängst in Pskow gegründete private Detektei an die Gruppe „Rote Zone“ und schlug vor, für eine Beteiligung von 10 Prozent der litauischen Regierung Geräte im Wert von 200.000 Rubel zurückzugeben.

Am 7. März wurde in Vilnius ein entsprechender Vertrag geschlossen. Ein Teil des Diebesgutes soll am 25. März in Pskow in Anwesenheit von Journalisten überreicht werden.

Aus dem Russischen: Barbara Kerneck