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Die Restalpenmenge

Ein ungewöhnliches Sachbuch — und ein Abschied  ■ Von Ludger Lütgehus

Ich gestehe, am Anfang hätte ich das Buch fast auf Nimmerwiederlesen zugeschlagen. Da wurde mir eine „Diskursanalyse“ der Alpen mitsamt den obligatorischen „Diapositiven“, „Simulacren“ und „Simulationen“, m.a.W. eine zweifellos „übercodierte“ Alpen-Monographie im Stil der poststrukturalistischen „force de frappe“ von Michel Foucault bis zu Jean Baudrillard, in Aussicht gestellt. Doch dann habe ich immer faszinierter weitergelesen und über ein, wie es scheint, abgegriffenes Thema — alpinistisch gesprochen: über eine vielbegangene, vernagelte Texttour — eine bemerkenswerte Leseerfahrung gemacht.

Aurel Schmidt stellt zunächst in acht gründlich recherchierten, überaus belesenen Kapiteln (ein Register wäre bei einer Neuauflage dringend erforderlich!) die geologische, kulturhistorische, mythologische, literarische, philosophische, ästhetische, touristische, (anti-)ökologische Geschichte der Alpen dar: die Alpen gleichsam im umfassenden historischen Querschnitt. Und die Vielfalt der Perspektiven hat plausible Methode: Wo die Spezialisten ihre Objekte atomisieren, bringt diese mehr als interdisziplinäre, diese integrale Darstellung das gefährdete Ganze wieder in den Blick.

Bekanntes taucht dabei auch wieder auf: die Entdeckungsgeschichte der Alpen vom Schrecklichen und Furchterregenden zum Erhabenen und Schönen; das alpin-rousseauistische Paradigma der wahren Natur; die Schweiz als „politisches Museum“, in dem der republikanische Geist der Antike, Freiheitssinn, Individualismus, die natürliche Sitte und was noch alles aufgehoben scheint.

In Schmidts mentalitätshistorischer Beleuchtung gewinnt diese Geschichte indessen eine neue Konturenschärfe. Es kristallisiert sich ein Prozeß heraus, den man in einem schon tragisch-ironischen Sinn „dialektisch“ nennen müßte, wenn dieses Wort nicht längst hoffnungslos verbraucht wäre. Hat nämlich die den Nutzen, den Profit vergötzende, der Sicherheit und der Langeweile erliegende Zivilisation die Alpen überhaupt erst als ästhetisches Gebilde, als ihr Gegenbild entdeckt, so schlägt ehen diese Entdeckung im Laufe der touristischen Erschließung wieder in die rüdeste Instrumentalisierung um. Auch alpin-philosophisch gesprochen: Die instrumentelle Vernunft fällt ihren Maximen selbst in den vermeintlichen Oasen der Zweckfreiheit zum Opfer.

Diese desillusionierende Geschichte spitzt sich in der Gegenwart zu dem zu, was Schmidt die „schleichende Zersötrung eines Mythos“ nennt. Ob es nicht zutreffender wäre, stattdessen von der unverhohlenen und rapiden Zerstörung einer unvergleichlichen Realität zu sprechen — zerstören Bergbahnen, Skipisten, Wasserkraftwerke, Waffenplätze, Autobahnen auch nur irgendwie „schleichend“ einen „Mythos“? —, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall wird Schmidt diesem Zerstörungsprozeß mit einer Fülle prägnant, oft sarkastisch oder auch bitter vorgetragener Einsichten gerecht. Er scheut dabei harte, gelegentlich unzulässig verallgemeinernde Formulierungen durchaus nicht: über das „Disney-“, das „Bauland“ Schweiz, die „gediegene, nette, schöne boutique suisse“, wo in den hochglanzpolierten ideologischen Auslagen rundum positiv und quasi-biblisch etwa von „Wertschöpfung“ die Rede ist, während man Profit und Spekulation meint.

Die touristischen und automobilistischen „Lawinen“ neuen Typs, die die Alpen zur „Rutschbahn“, die Natur zum „Fitnessparcours“, das ganze Land zum permanenten Austragungsort einer motorisierten Großveranstaltung machen — nicht nur, wenn allsonntäglich zum Beispiel die Motorräder den Grimsel heulend attackieren —, bekommen ihr gebührend Teil. Ein überaus drastisches Schaustück (auch Schauerstück) des Bandes ist die jähe Nebeneinanderstellung der inzwischen zerstörten Häderlisbrücke bei Göschenen mit dem wahren, dem betonierten „Gotthardmassiv“. Die zugehörigen Phrasen werden von Schmidt gnadenlos aufgespießt: Wenn wir als Kunden der Selbstbedienungslandschaft das „Landschaftskapital“ verzehren oder mal wieder ein Stück Landschaft „opfern“, was „verzehren“ und was „opfern“ wir da?

Das analytische Musterstück des Buches ist die Darstellunbg des Kampfes um die „Restwassermengen“, die die Elektrizitätswerke übrigzulassen gezwungen sind — oder auch nicht. „Wir wollen alles“: Das ehemalige Fanal der westeuropäischen Studentenbewegungen erhält hier einen fatal realistischen Sinn. Die Restwassermenge Null ist, funktionell gesehen, offenbar die einzig angemessene. „Und die Restalpenmenge?“, wäre in der Konsequenz von Schmidts Analysen durchaus zu fragen.

In den Schlußteilen kommt die nötige Innenansicht gebührend zu Wort. Die auch menschlich berührenden Erinnerungen eines Maderanertälers, die Schmidt aufgezeichnet hat, zeigen einen instruktiven Querschnitt durch die letzten 70 Jahre Erschließungsgeschichte.

Das Schlußkapitel bietet kurz und knapp einen „Abschied von den Alpen“. Also einmal mehr, nur auf ungewohntem Terrain, die zu Tode zitierte „Trauerarbeit“? Jedenfalls der Abgesang eines spürbar höchstpersönlich Getroffenen, ein Epitaph.

Aurel Schmidt, Die Alpen — schleichende Zerstörung eines Mythos, Benziger Verlag, 342 S., DM 48,—

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