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Bettelt nicht bei den Besatzern

■ »Lebe anständig! Jugendliche in Charlottenburg 1945 bis 1949« — Eine Ausstellung im dortigen Heimatmuseum

Natürlich könnte Charlottenburg auch Steglitz sein oder Recklinghausen oder Stuttgart oder irgendeine andere städtische Ansammlung von sehr viel weniger Menschen als noch Jahre zuvor und von vielen, vielen Häusern, die nun fast alle mehr oder weniger gründlich zerstört oder zumindest beschädigt sind. Kriegsende in Charlottenburg — das ist die Geschichte eines Stadtteils von vielen, einer Stadt von Hunderten nach dem Zusammenbruch. Städte ohne Männer, Städte der Frauen, Städte der früherwachsenen Kinder. Nur daß Charlottenburg eben hier ist, konkret unter unseren höchstpersönlichen Füßen. Und eben diese räumliche Abstandslosigkeit ermöglicht es auch, vergangene Zeit in ganz anderer Weise zu überbrücken als etwa durch eine universelle Geschichtsschreibung. Das Heimatmuseum Charlottenburg beispielsweise hat in seiner derzeitigen Sonderausstellung Lebe anständig! Jugendliche in Charlottenburg 1945 bis 1949 ganz einfach sehr konkret und sehr detailliert dieses kleine Gebiet bearbeitet und die persönlichen Erinnerungen von zwei Charlottenburgerinnen und fünf Charlottenburgern aufgezeichnet. Herausgekommen ist eine typische Leseausstellung. Vertraut wird dabei weniger auf die Ausstrahlung von überkommenen Gegenständen, mit denen normalerweise das Medium Museum laboriert, sondern auf die verschrifttafelten Aufzeichnungen der Erzählungen der ZeitzeugInnen, die mit allerdings stark übertriebener Akribie aufs Wort wiedergegeben wurden. Und fehlt einmal ein Ähm, dann steht da gleich ein Auslassungszeichen — nun ja, da hat eben jemand gedacht, Authentizität im Schriftstück ließe sich nur herstellen, wenn die Schreiberin so tut, als wäre sie ein Kassettenrekorder.

Obwohl die Ausstellung eigentlich dem Nachkrieg gilt, beginnt sie in ihrer Chronologie schon vor Kriegsende, als nämlich viele Jugendliche gezwungen waren, die Aufgaben von Erwachsenen zu übernehmen. Soweit sie nicht gleich noch an der Front verheizt wurden, spielten sie daheim im tödlichen Ernst im Volkssturm mit, wurden sie Wehrmachtsmelder oder Flakhelfer. Glück hatten sie zunächst wohl, wenn sie ab 1942 an der Kinderlandverschickung teilnehmen konnten. Nur daß sie dann eben nach Kriegsende irgendwo weit weg auf sich selbst gestellt waren, sich alleine durchschlagen mußten und so oft erst Ende der vierziger Jahre wieder in Berlin ankamen. Hier oder dort hatten sie in Kellern auf die Ankunft der Roten Armee gewartet: Kinder, die bisher nur den Nationalsozialismus und dessen Greuelpropaganda gekannt hatten. Manche haben dann Selbstmord begangen.

Ab 26. April 1945 tobten die Häuserkämpfe um Charlottenburg. Dann kamen die Russen wirklich. Die Sieger befreiten — und sie plünderten: »Das war für einen 16jährigen schon sehr demoralisierend, man hat schon verdammt aufpassen müssen, daß man zwischen Mein und Dein unterschieden hat«, erzählt einer auf einer Ausstellungstafel. Während die Erwachsenen wunderbarerweise von einem Tag zum anderen gute Demokraten wurden, war für die Jugendlichen der Wertewandel ungleich schwieriger zu verkraften. Im Jungvolk waren sie am Gewehr zu jungen Erwachsenen erzogen worden, zu Helden gar. Passend zum Krieg und zum Nationalsozialismus eben. Im Frieden war nun auf einmal alles durcheinander geraten. So entschärften die hungernden Kinder nun Tretminen, stahlen Brot, tauschten und handelten auf dem Schwarzmarkt: »Jeder hat eigentlich in der Zeit, na ja, so fast kriminell versucht, sich zu versorgen. Das hieß eigentlich nur organisieren! (...) Ick hab' also auf dem Güterbahnhof Heinersdorf gearbeitet, (...) durch meine Lehrfirma. Und ich habe also zu mindestens Kohlen und Kartoffeln organisieren können. Organisieren hieß ganz einfach klauen.«

Die Kinder bauten ihre Elternhäuser auf und ihre Schulen. Von 38 Schulgebäuden in Charlottenburg sind nur noch acht brauchbar. Die Russen geben Glasscheiben, Schulmahlzeiten und für jedes Kind ein paar Schuhsohlen. Die Schulbücher und die Nazi-Lehrer nehmen sie. So werden 19jährige zu Junglehrern ausgebildet, man lernte Stenografie, um den diktierten Lehrstoff auf Altpapier mitschreiben zu können: »Wir suchten damals eigentlich nach der Schule, weil wir alles andere als viel schlimmer empfanden.«

Draußen drohte die schiefe Schieberbahn, Krätze und Fleckfieber (»Töte die Laus, sonst tötet sie dich«) und auch Geschlechtskrankheiten: »Kleine Bekanntschaften, große Gefahr«, warnte ein Schild. »Lebe anständig« war deshalb das Motto des RIAS-Schulfunkparlaments. Nachdem im Oktober 1945 der Berliner Rundfunk angesichts fehlender Schulen, fehlender Lehrer und fehlender Lehrmaterialien mit regelmäßigen Schulfunksendungen begonnen hatte, wurde 1948 das RIAS-Schulfunkparlament gegründet, das im Hebbeltheater tagte und die Jugendlichen an der Programmgestaltung beteiligen sowie ein demokratisches Diskussionsforum sein sollte. Ja, und die einen haben es dann geschafft, »anständig zu leben«, haben sich an der Jugendolympiade 1948 beteiligt, sind den »Falken« beigetreten und haben in den wiederaufgebauten Jugendheimen Arbeitskreise zu Literatur, Wissenschaft und Politik organisiert. Und die anderen haben es eben nicht geschafft. Sie haben ihre Desillusionierung und Entwurzelung nicht überwunden: einer »geht keiner geregelten Arbeit mehr nach«, einer »hat keinen eigenen Anzug«, einer »hat einige Zeit keine Lebensmittelkarte«. Ihre Straftatbestände: »Diebstahl« oder »schwerer Diebstahl«.

Im Treppenhaus des Heimatmuseums hängen Schilder, die sich an die Eltern richten und die man beim Reingehen oder beim Rausgehen lesen kann: »Wißt Ihr, wo Eure Kinder ihre freie Zeit verbringen? Wißt Ihr, mit wem sie umgehen?« Oder: »überzeugt Euch, welche Filme sie sich allein ansehen.« Oder: »Verhindert, daß Eure Kinder tauschen oder handeln, daß sie vor Lokalen herumstehen und die Angehörigen der Besatzungsarmeen anbetteln. Forscht nach, woher die Dinge kommen, die sie nach Hause bringen. Prüft ihren Geldbesitz.« Doch: die totale Überwachung, das war tatsächlich nachher. Für viele der alten Kinder war das der Ausgang und nicht der Eingang. Auf den Krieg folgt nicht nur das Wirtschaftswunder. Gabriele Riedle

Die Ausstellung ist noch bis 14. Januar im Heimatmuseum Charlottenburg, Schloßstraße 69 täglich, außer montags, zu sehen.

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