„Ich mußte nur heil runterkommen“

Das Weltcup-Finale 1991 der Skiflieger im jugoslawischen Planica erlebte den weitesten Skisprung der Sportgeschichte, als André Kiesewetter aus Zella-Mehlis erst nach 196 Metern im Tal landete  ■ Aus Planica Gerhard Claar

„Als keine Reisigbündel mehr da waren, dachte ich, irgendwie mußt du hier heil runterkommen“, erinnerte sich André Kiesewetter, der Held des Weltcupfinales der Skiflieger im slowenischen Planica. Der 21jährige Lauschaer, der bei Motor Zella- Mehlis trainiert, mußte zwar im Gesamtklassement des ersten Tages dem Schweden Staffan Taellberg und dem Schweizer Stefan Zünd den Vortritt lassen, in die Herzen der über 30.000 Zuschauer hatte er sich aber längst gesprungen, oder genauer gesagt: geflogen.

Der Riesenbakken am Berg Ponce war für den deutschen V-Springer Neuland, denn seine persönliche Rekordweite lag bisher bei 130 Metern. Das ist keine Marke für Skiflieger, erst recht nicht in Planica, wo man auf den ersten 200-Meter-Sprung der Geschichte wartete. Dafür hatten die Jugoslawen klammheimlich den Schanzentisch um vier Meter erhöht, was ihnen die Kritik des Skiweltverbandes FIS einbrachte. Der befürchtete eine Rekordgier, die durch den automobilen Anreiz noch verschärft werden würde.

Bundestrainer Rudi Tusch warnte vor todesmutigen Weitenjagden, während Austria-Coach Toni Innauer Verständnis hatte: „200 Meter weit zu springen ist ein epochales Ereignis. Das sollte auch entsprechend gewürdigt werden.“

André Kiesewetter hatte das vernommen und begab sich in die Spur. 144 Meter bei der Probe, 158 im ersten Durchgang und dann in seinem erst dritten Flug 196 (in Worten: einhundertsechsundneunzig) Meter. So weit sprang noch keiner. Nirgendwo. Bei fast idealen Bedingungen — Windstille und Temperaturen um fünf Grad über Null — konnte André diesen Supersatz nicht korrekt stehen, mußte nach der Landung in den Schnee greifen und ins Tal „rodeln“. An seiner sportlichen Leistung ändert das nichts.

Zunächst fassungslos, sprudelte es wenig später nur so aus Kiesewetter heraus: „Das gibt es nicht. Es war wie ein Traum. Ich bin vom Schanzentisch super weggekommen, fast zu hoch. Es war, als hätte mich jemand am Kragen gepackt und in die Höhe gezogen.

Das Fliegen war ein wunderbares Gefühl, aber dann kam der Moment, wo ich dachte, jetzt mußt du aber heil runterkommen. Das Reisig im Auslauf kam näher und näher. Ja, und dann war ich wieder auf dem Boden. Den Sprung konnte ich niemals stehen.“

Hört sich alles einfach an, ist es aber natürlich nicht. Den ungeheuren Druck bei der Landung wegzustecken, den Flug vorher bis zum letzten durchzuziehen, verlangt Können, Mut und Glück. Aerodynamiker errechneten, daß Kiesewetters Sprung 202 Meter weit gewesen wäre, hätte er ihn nicht vorher abgebrochen. Der 1,71 Meter große und 62 Kilogramm schwere Schanzenpilot entwickelt sich immer mehr zu einem Athleten der Ausnahmeklasse.

Verständlich wurde er nach diesem Satz immer wieder nach den magischen 200 Metern befragt: „Ich halte sie in Planica für möglich, allerdings muß der Aufsprunghang ebener sein. Die vielen Huckel wurden mir zum Verhängnis.“ Jedenfalls bestritt Kiesewetter energisch, auf bedingungslose Rekordjagd aus zu sein. Das hatte man ja den Organisatoren in Planica vorgeworfen.

Präsident Andrej Marinc erklärte aber mehrfach, daß die erneuten Umbauten am Bakken den Bestimmungen der FIS nicht widersprechen. Sei es, wie es sei: die weitesten Flüge hat das slowenische Skizentrum ohnhin gesehen.

Der Weltrekord von 194 Metern wurde vom Polen Pjotr Fijas auf dieser Schanze erflogen. Und sollte doch einer der mutigen Weitenjäger die 200-Meter-Schallmauer übersegeln, ist ihm auch die ausgesetzte Luxuslimousine zu gönnen.