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Jetzt muß man einfach Flagge zeigen

■ „Tatkraft, Aufbauwille, Wagemut und Gründergeist“/ Die Messe, eine Scheinwelt — das Leben in Leipzig ist ganz anders

Am Stand 47 der Halle 15 muß sich Christian Schwarz-Schilling interessiert zeigen. Der Postminister verschränkt die Arme vor der Brust und richtet sich auf längere Verweildauer ein. Die mit Gel frisierten Leibschützer in modisch violetten Blazern haben verstanden; trutzig beziehen sie hinter dem Rücken ihres Bonner Bosses Stellung.

Zwei Fotografen der lokalen Presse scharwenzeln um Schwarz- Schilling herum und blitzen ihm ins strahlende Gebiß. Die Herrschaften vom Privatfernsehen wiederum verlieren schnell ihr Interesse und wickeln das Kabel wieder ums Mikrofon. Kein Bock auf Ministerworte. Und auch die Messebesucher lassen die Runde einflußreicher Mannsbilder unbesehen links liegen.

Ein Schwarz-Schilling ist nun mal — das kann ihm ja ganz recht sein — kein Honecker. Der zog in den besseren Zeiten von Leipzig zu Messebeginn immer eine Horde andächtiger Nachbeter hinter sich durch die prallgefüllten Hallen. Heute verdecken provisorische Wände die leeren Gassen, das Interesse an Leipzig lahmt.

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Tapfer beschwören die Sachwalter sächsischen Notstandes üppige alte Zeiten und prognostizieren sich eine noch glänzendere Zukunft. „Die Mutter aller Messen hat eine Verjüngungskur hinter sich. Sie wird sich den veränderten Wettbewerbsbedingungen stellen. Sie wird neu Tritt fassen und schon bald ihr Ansehen in Europa und der Welt neu profilieren. Die Messemetropole ist wieder eine Reise wert“, lobhudelt der ehrenwerte Ministerpräsident Biedenkopf. Der Oberbürgermeister der Stadt, Dr. Hinrich Lehmann-Grube, ist ebenfalls frohgemut: „Alle Leipziger haben die Ärmel aufgekrempelt, um gemeinsam ihre Stadt in eine gute Zukunft zu führen. An dem Messestandort Leipzig wird niemand vorbeikommen.“

Wacker gesprochen. Man könnte fast meinen, die Messe sei schon über den Berg. Auch wenn man Herrn Schwarz-Schilling in Halle 15 beobachtet, möchte einem schier das Herz aufgehen vor Freude über den Optimismus, den der Mann verströmt. An Stand 47 demonstrieren die Nachrichtenelektroniker von RFT- SEL, wie sie sich den Aufbau des Fernsprechnetzes in den Ostgebieten vorstellen. Ein Sprecher des Unternehmens weist den Minister auf übermannshohe Schautafeln hin. Referiert dann, was auf der rechten Grafik zu sehen ist.

„Digitale Fernsprechvermittlungen 1990/91 in der neuen Bundesrepublik“; die Karte ist — von Rostock bis nach Sonneberg — mit roten Pusteln übersät. Durchaus „imposant“. „Das ist bloß der Anfang“, sagt der Nachrichtenelektroniker. Der Minister nickt.

Und lächelt. Das ist überhaupt, so scheint es, seine Bestimmung. Christian Schwarz-Schilling, silberhaarig, elegante Brille, im dunkelblauen Maßgeschneiderten mit feinen weißen Streifen, sagt nichts, er fragt nichts. Er kreuzt die Arme vor der Brust und lächelt. Den Gesichtsausdruck hat man manchmal bei Leuten, die sich gut darauf verstehen, so zu tun, als hörten sie zu.

Fünf Minuten schon redet der andere auf den Minister ein. Erzählt von Erfolgen und Neuinstallierungen, von technischen Wunderdingen und sozialistischen Fernmelde-Altlasten. Dann spricht er vom Geld. Millionen, Milliarden. Er ist Schwarz-Schilling ganz nahegetreten.

Da endlich findet der Mann aus Bonn Worte. „Erzählen sie das“, sagt er, sein Lächeln wird breiter und breiter, dann lacht er gar, leise und listig: „Erzählen sie das dem Möllemann.“

Man freut sich allgemein über den Minister. War doch elegant, wie er wieder mal die Kurve gekriegt hat. Nur der Herr vom RFT-SEL ist einen Augenblick sprachlos. Und wenn der Eindruck nicht trügt, einen Moment lang verstimmt. Doch auch er hat sich schnell unter Kontrolle, geht zum Small talk über. Postminister Schwarz-Schilling lächelt. Er ist nun mal eine Frohnatur.

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Draußen scheint die Sonne, am blitzblauen Himmel zieht ein Flieger eine Werbeschleppe der Firma RFT-SEL über den Messeplatz, umkurvt den Zeppelin von Telekom, die Luft ist mild, es stinkt fast nicht, ein wunderbarer Samstagvormittag. Und all diese herrlich zuversichtlichen Geschäftsleute, die ihren guten Namen darauf verwetten, daß sie hier in dem Laden schon für das rechte Wirtschaftswunder sorgen werden. Die zurren sich den Schlips fest, und dann machen sie sich an die Ost-Erschließung.

Optimismus gehört bei der Messe nun mal zum Geschäft. Forsch geben sie sich, die Versprecher des kommenden Wohlstandes. Sie übertönen mit selbstsicheren Sprüchen das schleppende Geschäft. Sie witzeln sich über die Zeit, wenn sie wegen des Taximangels mit der Schnellbahn durchs bedrückende, schmutzige Leipzig, an den liebevoll gepflegten, armseligen Laubenkolonien vorbei zum Messeplatz fahren. Die Ventilatorenvertreter und Tourismusverkäufer, die Porzellanmanufaktoren und Stahlhändler machen sich gegenseitig Mut, und sie schotten sich — so gut es eben geht — gegen die Realität ab.

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Es ist Mittwoch. Der Gewindebohrer-Mann aus Niedersachsen hat von der Stadt die Nase voll. Er flegelt an der Bar des Hotels „Astoria“ und läßt seine Enttäuschung über das schlechte Geschäft am Ober aus. Der, ein griesgrämiger Schlacks mit schmuddeliger Weste, sieht nicht einmal von seiner Zeitungslektüre hoch, als ihn der Gast in seine Tiraden einbezieht. Wie er sich denn das als Leipziger vorstellt, „arbeiten müßt ihr, nicht demonstrieren. So kriegt ihr das nie geregelt. Was glaubt ihr denn — uns ist doch auch nichts in den Schoß gefallen.“

Der Ober antwortet nicht. Er war nicht auf der Montagsdemo, denn um diese Zeit mußte er schon hinter dem Tresen stehen. „Klar“, sagt er später zu einem anderen Gast, „wäre ich auch gerne gegangen, aber ich muß eine Familie ernähren. Ich traue mich doch nicht einmal, wegzubleiben, wenn ich die Grippe habe.“

Seine Frau, erzählt er, ist auf die Straße gegangen. „Das war nicht wie vor eineinhalb Jahren. Damals haben wir gehofft, da haben wir gekämpft, und es war so eine Euphorie dabei. Heute kämpfen wir ums Überleben, fühlen uns beschissen, und die Hoffnung wird von Tag zu Tag kleiner.“

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In der Innenstadt lassen die Aussteller der Konsumgüter-Messe die Wirklichkeit außen vor. Wer zu ihnen will, zahlt für die Karte einen Zehner und ergeht sich dann in den alten Handelshäusern auf einen Jahrmarkt der Unerschwinglichkeiten. Ossis streicheln liebevoll über die Solarien in der Messehalle am Markt, Kinder lassen sich nicht mehr von den Flipperkästen in Specks Hof losreißen, schüchterne Schönheiten vom Lande werden gnadenlos über den Tisch gezogen. Wenn es ihnen an Kaufkraft gebricht, hält sich der West-Vertreter anderweitig schadlos:

Das Mädchen weiß nicht so recht. „Trauen sie sich nur, junge Frau, kommen's ruhig ein Stückerl näher“, ermuntert sie der Fingenagellack-Experte aus der Schweiz. Er trägt ein schickes weinrotes Jackett und steckt in maßgefertigten Schuhen mit Plateausohle. Schöne Hände haben sie, sagt er, gerade richtig für unsere Young-Fashion-Kollektion. Das Mädchen wird rot. Er greift die Hand, wirklich schön, viel Hausarbeit haben sie Gott sei Dank noch nicht machen müssen. Doch, antwortet sie, zu Hause ist eine Menge zu tun. Na, das sieht man wirklich nicht, meint er. Ob sie Familie habe, Kinder? Nein, das nicht. Aber jetzt, sagt sie, müsse sie wirklich weiter.

Er läßt die Hand nicht los. Malt ein bißchen Young-Fashion auf einen Nagel. Dann guckt er sie an — meint wohl, das sei ein besonders gelungener Blick — und fragt, ob er sie zum Essen einladen könne. Er fühle sich in Leipzig ziemlich solo. Wieder sein toller Blick. Dann läßt er ihre Hände los. Dann eben nicht. „Und kaufen wirst du auch nichts wollen, wie ich das alles hier kenne.“

Kein Interesse mehr. Das Mädchen geht. Ein Finger angemalt, die anderen farblos. Armselig sieht das aus.

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Nur manchmal bricht bei den Vermarktern des neuen Wirtschaftswunders der Frust durch. „Läuft das Geschäft?“, ruft der Schmuckmann aus Düsseldorf der Scherenfrau aus Solingen („Form und Farbe — die harmonische Verbindung“) im Messehaus am Markt zu. „Nee“, ruft sie durch die Halle zurück und zupft zum weiß nicht wievielten Mal den schwarzen Hosenanzug zurecht. „Bei ihnen vielleicht?“ Er will sich ausschütten vor Lachen. „Wenn sie mir nicht ein paar Klunker abgekauft hätten, müßte ich glatt sagen, ich bin nicht ganz zufrieden. Aber mal im Ernst: Ein Saftladen ist das hier.“

Auf dem Messegelände steht ein erfahrener Vertreter einer westdeutschen Firma für Gabelstapler, blickt grimmig auf die sonnendurchflutete Straße. Sein junger Kollege, zum ersten Mal auf der Messe, ist richtig bedrückt. So nutzlos hat er sich selten gefühlt. Da rafft sich der Ältere auf: „Klar ist das zum Kotzen — nur gucker, keiner kauft“, meint er und steckt sich eine Zigarette an, „aber bei der nächsten Messe wird das alles viel besser. Wir müssen dranbleiben.“

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Fräulein Sommer saugt den Teppich im Pavillon der Treuhandgesellschaft. Ist auch dringend nötig, denn hier treten sich wirklich eine Menge Leute den Straßenstaub von den Schuhen. Die Interessenten geben sich die Klinke in die Hand. Verschwinden hinter den Paravents, lassen sich vom Computer ostdeutsche Unternehmen anbieten, ziehen mit einem Stapel Papier wieder von dannen.

„Das hier ist ein guter Platz für erste Kontakte“, meint Wolf Schöde von der Treuhand. „Die Leute, die in den neuen Bundesländern investieren wollen, bekommen von uns Telefonnummern und Adressen. Den Rest müssen sie dann schon selbst zuwege bringen.“

Schöde — „Wer für die Treuhand arbeitet, darf nicht wehleidig sein. Der braucht eine hohe Frustationstoleranz“ — hat alles schon hundertmal gesagt. Daß die Treuhand ihre „Bringschuld“ erfüllt. Und das es jetzt an den Unternehmen sei, ihre „Holschuld“ aufzuarbeiten. Die müssen jetzt die Courage haben. Würde sich auch lohnen, sagt Treuhänder Schöde. „Wer zu spät kommt, findet keine Rosinen mehr vor.“

Leipzig ist Neuland für ihn. Jetzt muß man einfach Flagge zeigen. „Wir konnten doch die Messe nicht verhungern lassen“, sagt er, und: „Als sowas Besonderes empfinde ich das hier auch nicht. Ist wie überall. Mit der Ware wird eine Show abgezogen. Wer durch die Eingangstore geht, kommt in eine Scheinwelt.“

In der Tat: die Messe, eine Scheinwelt. Leben in Leipzig ist ganz anders.

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Samstag. Die Jurcks haben Waschtag. Sie wollen es gemütlich haben — so gut es geht. Aber wie kannst du hier in der Neubauer-Straße den Dreck schon draußen vor der Tür halten? Von der anderen Seite des Bahndammes rußt es Tag und Nacht aus den Werkhallen, der Nachbar hat auf dem Weg zu den Mülltonnen wieder mal die Hälfte des Abfalls verloren. Im Treppenhaus stinkt es nach Urin und nach Hund, nach Kohl und nach Kohle. Herr Jurck, im Trainingsanzug, hängt die nasse Wäsche in der Wohnung auf. Weil hier die Luft am besten ist.

Er läßt sich aufs Sofa fallen. Naja, sagt er, seit die Tochter aus dem Haus ist, hat man wenigstens Platz. Er zeigt auf die Schrankwand: „Die ist aus unserem Geschäft. Nicht so modern wie sie Sachen von IKEA, aber alles funktioniert.“

Schon lange vor der Wende hat er die Schrankwand fürs eigene Wohnzimmer zusammengeschraubt. Wenn er heute daran zurückdenkt, war es gar nicht so schlecht damals. Man hat geschimpft, weil es immer irgendwas nicht gab, sich wegen jeder Kleinigkeit die Hacken abrennen mußte. Aber man hat gelebt, und man wußte, daß weitergelebt werden würde. Jetzt weiß man gar nichts, sagt Herr Jurck. Er ist Leiter eines Möbelgeschäftes außerhalb von Leipzig, das will niemand aus dem Westen übernehmen. Alles unsicher, nur seine Kündigung hat er schon für Juli in der Tasche. „Montags denke ich mir immer, ich bräuchte eigentlich gar nicht mehr auf Arbeit zu gehen, hilft ja doch nichts. Ich bin 52, das ist wie tot.“

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Fahrt durch Leipzigs Vororte zur Autobahn. Vorbei an den verwitternden Fabrikkolossen, durch Schrebergartenkolonien, in denen sich graugesichtige Menschen den Nachmittag schöntrinken. Nachrichten im Radio. Ein Sprecher resümiert, die Messe sei ein voller Erfolg gewesen. Denn, so heißt es, man habe die erhofften „Kontakte knüpfen können und sieht mit Optimismus in die Zukunft“. Dann ist die Rede vom Kanzler, der sich in der morgigen Ausgabe der 'Welt am Sonntag‘ über die neuen Bundesländer äußert, vom Aufschwung schwadroniert und von „Tatkraft, Aufbauwille, Wagemut und Gründergeist“ der Menschen in Halle und Schwerin und Leipzig.

Der Wagen schüttert durch ein Schlagloch. Du denkst an die Wirtschaftswunder-Menschen von der Messe, an die frohsinnigen Parlamentarier. Dann an die Familie Jurck und an die Leute in der Neubauer- Straße oder wo sonst noch. Das sind sie also, die Menschen, die Kohls Aufschwung schaffen sollen. Am Montag nehmen sie sich wieder die Freiheit und werden hinausschreien, was sie von den Parolen aus Bonn halten. Aber der Kanzler wird nicht da sein. Der sitzt seinen Osterurlaub aus. Detlef Vetten

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