: Republikanische Garde besetzte eigenes Land
■ Flüchtlinge berichten über kaltblütige Massker im Südirak/ Flüchtende Frauen und Kinder niedergemäht/ Summarische Exekutionen junger Männer/ Kranke und Ärzte erschossen/ Odyssee der Flüchtlinge bei der Suche nach Zuflucht und Hilfe
Suq al Shuyukh/Nasiriya (wps/ dpa) — Die Republikanische Garde, Saddam Husseins Elitetruppe, hat eine Spur des Todes durch die aufständischen südirakischen Städte gezogen. Familien wurden in den Straßen oder auf Feldern erschossen, Jugendliche und junge Männer summarisch hingerichtet — die Flüchtlinge, gezeichnet von dem Erlebten, die am Montag den von den USA besetzten Teil des Iraks nahe der Stadt Suq al Shuyukh erreichten, berichteten von Szenen des Horrors. An jedem Posten der US-Streitkräfte zwischen Safwan bei der Grenze zu Kuwait und Suq al Shuyukh, weiter nördlich, sprachen verzweifelte Flüchtlinge zum Teil unter Tränen über das, was ihnen und ihren Familien widerfahren ist. Einer von ihnen, Alaa Haschem Qazem, der einen fünftägigen Fußmarsch hinter sich hat, sagt, er habe drei Kinder verloren. „Wir sind nach Abu Shkeir, einem Dorf bei Najaf, gegangen, um uns dem Widerstand anzuschließen. Unsere Familien blieben zu Hause. Als ich sie holen wollte, war mein Haus völlig zerstört. Es war beschossen worden. „Ich fand meinen dreijährigen Sohn Raad mit abgetrenntem Kopf“, berichtet der aufgelöste Mann. „Ich hielt es nicht aus, mir das anzusehen.“ Der 32jährige Jawad Mohammed, ein Deserteur, sagte, er habe gesehen, wie eine Frau mit einem Kind auf der Straße von einem Geschoß getroffen und getötet wurde. „Da fingen wir an, abzuhauen.“
Ein anderer Füchtling namens Mohammed, ebenfalls ein Deserteur, berichtet von einem kaltblütigen Massaker an Frauen, alten Männern und Kindern zwischen Najaf und Abu Shkeir. Seine Frau Ahlam und seine drei Kinder seien unter den Opfern gewesen. Über fünfzig andere Männer aus der heiligen schiitischen Stadt Najaf sprachen ebenfalls von getöteten Ehefrauen oder Kindern. „Das war das schrecklichste Massaker“, sagt Mohammed, „Familien, die weg wollten, wurden in der Straße zusammengetrieben und niedergemäht. Wir sahen mit eigenen Augen, wie Verletzte aus den Krankenhäusern gebracht und zusammen mit den Ärzten erschossen wurden.“ Jeder der Umstehenden hat seine eigene Tragödie zu berichten.
Der 32jährige Ibrahim Mehdi Ibrahim, ein Offizier der irakischen Armee, sagt, er sei vor fünf Tagen desertiert, als die Republikanischen Garden bei einem Panzer- und Hubschrauberangriff ein Massaker anrichteten. Sie hätten die Bevölkerung aus den Häusern gelockt und dann mit Artillerie beschossen. „Zu Beginn des Aufstands haben wir Quadissiyah beschossen, dann brachten sie Hubschrauber, um das Werk zu vollenden. Ich habe mir gesagt, da will ich nicht mitmachen, und habe mich dem Widerstand angeschlossen. Es ist gewissenlos, wenn ein Muslim, ein menschliches Wesen, seine eigenen Leute bekämpft.“ Seine Einheit habe auch Panzer in der Stadt Diwaniyeh eingesetzt. „Frauen flohen aufs Land und auf die Felder. Hubschrauber machen Jagd auf sie und eröffneten das Feuer.“ Junge Männer über fünfzehn Jahre seien zusammengetrieben worden. Ihnen habe man vorgeworfen, mit dem Widerstand zusammenzuarbeiten. Jeder zwanzigste oder dreißigste sei erschossen worden. Die Toten seien dann im Militärlager in Diwaniyeh kollektiv verbrannt worden. „Häuser wurden mit Dynamit gesprengt, während noch Leute drin waren“, berichtet er weiter. „Ich habe das mit meinen eigenen Augen gesehen.“ Leidensgefährten, die ihn davon abhalten wollten, seinen Namen zu nennen, entgegnet er: „Das ist mir egal. Meine Mutter und mein kleiner Bruder wurden von Saddams Truppen getötet, und mein Leben ist nicht mehr Wert als ihres. Laßt mich die Wahrheit sagen, die Welt muß das wissen.“ Die US-Soldaten an den Checkpoints versorgen die Flüchtlinge mit Wasser, Essen und erster medizinischer Hilfe, dann werden sie weitergeschickt. Ein Arzt berichtet von zahlreichen Leuten, die zusammengeschlagen wurden, von verbrennungen, von Kindern, die mit Stacheldraht geschlagen wurden. Andere hätten Schußverletzungen. „Ich verstehe diesen verdammten Krieg nicht“, meint der 31jährige US-Soldat Kevion Pfister. „Zuerst bekämpfen wir sie, jetzt helfen wir ihnen. Jetzt sind wir so eine Art Schiedsrichter im Bürgerkrieg von jemanden anders.“ Kendall Sorensen, ein anderer Soldat, sagt, daß er angesichts des Flüchtlingselends hin- und hergerissen ist zwischen seinem Wunsch, nach Hause zur Familie zurückzukehren, und dem Wunsch, in einem Flüchtlingslager zu arbeiten, falls er gebraucht werde.
Doch wenn die Flüchtlinge erst mal das von den USA besetzte Gebiet erreicht haben, ist ihre Odyssee noch nicht beendet. Unter Giftwolken und kaltem sauren Regen sind Hunderte von ihnen bei ihrer vergeblichen Suche nach Zuflucht gestrandet — „zwischen Himmel und Erde“, wie ein Mann sagt. Die Flüchtlinge wollen weiter nach Kuwait oder Saudi- Arabien, sie fragen nach dem Roten Kreuz. Aber niemand will sie, Hilfe gibt es nicht, und zurück wagen sie sich nicht. Nach der Soforthilfe an den Checkpoints müssen sie weiter, Sammelstellen gibt es nicht, das Gelände ist auch zum Teil noch vermint. Noch hungern die Menschen nicht, noch sterben sie nicht. Aber viele leiden unter den Folgen der Strapazen— manche sind kilometerweit durch das verminte Gebiet gewandert —, Kinder haben Durchfall oder Atmungsprobleme. Einige sind schon so weit, daß sie beim Brotbacken das Mehl mit Sand strecken.
„Wir sind seit fünfzehn Tagen unterwegs“, berichtet Saad, der in einem zerbeulten Taxi mit seiner ganzen Familie geflohen ist. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Wir waren bei einem Lager des Roten Halbmonds in Kuwait. Sie haben uns sehr schlecht behandelt und gesagt, sie können keine Iraker aufnehmen. Ich kann nicht zurück nach Nasiriyah. Die Republikanische Garde würde mich umbringen. Die UNO hat sehr schnell reagiert, als der Irak Kuwait überfallen hat. Warum tut sie das jetzt nicht? Wo ist das Rote Kreuz? Die Republikanische Garde hat ihr eigenes Land überfallen. Jetzt hält sie uns besetzt.“ Nora Boustani/Simon Tisdall
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