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Demonstrationsfreie Zone Moskau

Premierminister Pawlow verfügt dreiwöchiges Demonstrationsverbot/ Regierung hat Angst vor großen Sympathiekundgebungen für Jelzin und fürchtet Krawalle wegen der geplanten Preiserhöhung  ■ Aus Moskau von K.-H. Donath

Der Erlaß des sowjetischen Premiers Walentin Pawlow, für den Zeitraum von drei Wochen erst einmal alle Demonstrationen und Massenmeetings von den Straßen Moskaus zu verbannen, trägt die Unterschrift des Premiers, doch Präsident Gorbatschow hat ihm dabei sicherlich unterstützend die Feder geführt. Gorbatschow selbst unterstellte am Dienstag die Sicherheitsverwaltung für das gesamte Gebiet Moskaus direkt dem Innenministerium der Union.

Die Unterbindung der Demonstrationsfreiheit kommt nicht aus heiterem Himmel. Am 28. März traf in Moskau der Oberste Sowjet der Russischen Föderation (RSFSR) zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Beschlossen wurde dies, nachdem Gorbatschows Herausforderer Jelzin im Februar dem Präsidenten live im Äther Vertrauen und Gefolgschaft aufgekündigt hatte. Der gerade tagende Oberste Sowjet der UdSSR verabschiedete eine Resolution, in der er die Deputierten des höchsten gesetzgebenden Organs der RSFSR aufforderte, einen Mißtrauensantrag gegen seinen unbotmäßigen Vorsitzenden Jelzin zu stellen. Damit werden sich die Abgeordneten auch ab Donnerstag befassen.

Nur hat sich seit Februar der innenpolitische Wind wieder gedreht. Die Opposition, die zwischenzeitlich in der Versenkung verschwunden war, ist wieder auf der Bildfläche erschienen. Hunderttausende Demonstranten wollten Jelzin als russischen Präsidenten und forderten den Rücktritt der Unionsregierung. Den Ausschlag jedoch gab das Abstimmungsergebnis des Referendums. Viele Hauptstädter begriffen diesen Wahlakt als eine Personenwahl zwischen beiden Kontrahenten, aus der Jelzin als deutlicher Sieger hervorging.

Die Sympathiekundgebung für ihn, die zum Auftakt des Kongresses anberaumt war, möchte sich die Regierung schlichtweg vom Halse schaffen, zumal sie sich auch nicht auf eine Schlappe Jelzins freuen kann. Nach dessen Referendumserfolg bleibt ihm die hauchdünne Mehrheit im Obersten Sowjet, die im Februar zu kippen drohte, nun doch erhalten. Denn Jelzin gegen den Willen des Volkes zu stürzen, wagen auch die Konservativen in dieser aufgepeitschten Atmosphäre nicht. Mit dem Erlaß lassen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Im Umfeld des Bergarbeiterstreiks wurde häufig die Vermutung geäußert, daß die ab 2. April geplanten Preiserhöhungen landesweit zu Krawallen führen könnten. In Moskau hätte man so erst einmal für Ruhe gesorgt.

Um die zweite Fliege zu treffen, greift die Regierung auf bekannte Erklärungsmuster zurück: 29 Deputierte des Obersten Sowjets der RSFSR seien mit der Bitte an den sowjetischen Präsidenten herangetreten, für einen reibungslosen Ablauf des Kongresses zu sorgen. Konservative Deputierte befürchteten, sie könnten von aufgebrachten Jelzin- Anhängern beim Betreten des Sitzungssaales auf dem Kreml-Gelände mißhandelt werden. Der Präsident gab die Angelegenheit zur Erledigung an seinen Premier weiter, den Mann fürs Grobe. Das allein verdient schon Beachtung.

Denn bereits vergangenes Jahr hatte Gorbatschow in einem Präsidentenerlaß aus ähnlichen Gründen ein Demonstrationsverbot verfügt. Doch hatte er damit in die Kompetenzen der RSFSR und des Moskauer Stadtsowjets eingegriffen. Das jedenfalls quittierte ihm im Herbst das Komitee für Verfassungsaufsicht, das den Erlaß für verfassungswidrig erklärte und seine Wirkung aufhob. Der Moskauer Bürgermeister, Gawriil Popow, war damals den Anweisungen des Präsidenten nicht gefolgt. Auch für die jetzige Demonstration hat er bereits sein Placet gegeben.

Hat das, was im Herbst noch verfassungswidrig war, auf einmal bindende Kraft? Im Gesetzgebungs- und Kompetenztohuwabohu Moskaus ist das schwer zu sagen. Pawlow als Premier hat Ende Februar ein Gesetzespaket zur Neubewertung seines Ministerrates durchgepeitscht. Obwohl er persönlich als Premier weniger Bewegungsfreiheit hat als noch sein Vorgänger Ryschkow, konnte er die Befugnisse des Ministerrates ausbauen. Der ist dazu ermächtigt, Ausführungsbestimmungen zu Gesetzen zu erlassen, die auf dem gesamten Territorium der UdSSR Gültigkeit besitzen. Die legislativen Organe der Republiken müssen dabei nicht einmal nach ihrem Votum gefragt werden. Ob das Demonstrationsverbot allerdings erfolgreich sein wird, ist zweifelhaft: die Bewegung „Demokratisches Rußland“ hat angekündigt, auf alle Fälle am Donnerstag auf die Straße zu gehen.

Oberster Sowjet setzt Bergarbeiterstreik aus

Moskau (dpa) — Mit 302 Ja- zu 28 Nein-Stimmen sowie 45 Enthaltungen hat das sowjetische Parlament am Dienstag den Streik der Bergarbeiter für zwei Monate ausgesetzt und die Regierung damit beauftragt, die wirtschaftlichen und sozialen, nicht jedoch die politischen Forderungen der Streikenden zu überprüfen. Unter anderem verlangen die Kumpel eine Verdoppelung ihres Lohnes und den Rücktritt Gorbatschows und der Regierung Pawlow.

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