Ein halbes jüdisches Leben nur für Papiere

■ In Moabit hatte sich ein ostjüdisches Ehepaar wegen "nachgebesserter" Geburtsurkunden zu verantworten/Bürokratie kontra Ostjuden: Ein Dilemma seit 100 Jahren/Gericht verhängte hohe Geldstrafen

Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin«, schrieb um 1930 der galizische Jude Joseph Roth in Juden auf Wanderschaft. Berlin sei eine Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen länger verweilt. Zum Beispiel, wenn die Papiere nicht in Ordnung seien — »und bei den Ostjuden sind sie nie in Ordnung«. So verstreiche ein »halbes jüdisches Leben im zwecklosen Kampf gegen die Papiere«, und sie würden zu »Verbrechern«. Der echte jüdische Verbrecher sei meist schon in seiner Heimat Verbrecher gewesen, wußte Roth, denn »er kommt nach Deutschland ohne Papiere oder mit falschen«. Einige Jahre später kosteten die »echten« Papiere mehrere Millionen Menschen das Leben. Die wenigen, die das Glück, das Geld, die Beziehungen für »falsche« Papiere hatten, konnten Deutschland verlassen. Anna Seghers hat diesen verzweifelten Kampf um gefälschte Urkunden in ihrem Roman Transit beschrieben.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Roths und Seghers Berichte über die ständige Suche nach Menschen, die einem gegen gutes Geld »echte« falsche Papiere verkauften, sind Weltliteratur geworden und Scholem Alejchems Erzählungen über die immerwährende jiddische Mühe, Beamten zu beweisen, »daß man ist geboren«, allenfalls eine nostalgische Erinnerung an das untergegangene Leben im Shetl. Heute herrscht Recht und Ordnung und keine antisemitische Willkür mehr. Vor Gericht sind alle gleich. Außerdem gibt es kaum mehr Ostjuden. Und wenn, dann sollen sie es bleiben.

Bekenntnis zum deutschen Volkstum

Es sei denn, sie haben Papiere, die das »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« nach §6 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) beweisen. Etwa durch Geburtsurkunden. Die reichen aus, um auch als Ostjude einen Vertriebenenausweis zu bekommen. Vorausgesetzt, die Urkunden sind einwandfrei. Wenn nicht, geht der Ärger erst richtig los.

In der vergangenen Woche verurteilte in der Hauptverhandlung ein Schöffengericht des Amtsgerichts Tiergarten unter dem Vorsitz der Richterin Müller die 1937 in Lettland geborene Jüdin Esther A. und den 1941 ebenfalls in Lettland geborenen jüdischen Ehemann Solomon S. wegen des »fortgesetzten Gebrauchs einer gefälschten Geburtsurkunde«. Sie hätten, um Vorteile »bei einem Verwaltungsstreit« zu erlangen, 1985 beim Senator für Arbeit und Soziales eine manipulierte Urkunde für Esther A. eingereicht, obwohl sie genau wußten, daß sie nicht in Ordnung war. Vermutlich sei die Geburtsurkunde sogar hausgemacht, sagte Staatsanwalt Harder, aber das Gericht wolle Gnade vor Recht ergehen lassen und sie »nur« wegen der Verwendung dieses Papieres bestrafen. Aber weil die beiden Angeklagten »hartnäckig« seien, habe man die Strafe empfindlich hoch festlegen müssen.

Der berufstätigen Esther A. wurden 70 Tagessätze à 80 Mark aufgebrummt, dem Sozialhilfeempfänger Solomon S. 70 Tagessätze à 20 Mark. Insgesamt also 7.000 Mark Strafe, und dazu kommen noch Gerichtskosten in unbekannter Höhe.

Der Prozeß war der vorläufig letzte Akt in dem viele Jahre lang laufenden Trauerspiel: Zwei Juden wollen Deutsche sein. Esther und Solomon S. haben, genau wie es Joseph Roth 1930 schrieb, ihr halbes jüdisches Leben damit zugebracht, sich gute Papiere zu besorgen. Nämlich Urkunden, die wirklich beweisen, daß sie geboren sind und zwar als Kinder von Eltern, die sich sowohl kulturell als auch abstammungsmäßig dem deutschen Volkstum zurechneten. Das ist ihnen nicht geglückt. Seit 1979 haben sie sämtliche Prozesse um die Anerkennung als »deutsche Heimatvertriebene« verloren. Nie wurden Historiker oder Sprachwissenschaftler als Gutachter bemüht, niemals spielte es eine Rolle, daß Solomon S. Deutsch mit einem starken jiddischen Tonfall und einem jiddischem Satzgefüge spricht. Auch das Bundesverwaltungsgericht entschied in letzter Instanz 1989: Ester und Solomon S. sind keine deutschen Juden aus Lettland, nichts spricht für sie. Aber alles gegen sie.

Unerheblich blieb in allen Verhandlungen die komplizierte Geschichte Lettlands — und damit die objektive Schwierigkeit, sich als Juden im Baltikum zu einem Volkstum bekennen zu können. Unter der sowjetischen Annektion ab 1940 wurden deutsche Juden zumeist nach Sibirien deportiert, nach der deutschen Besetzung 1941 wurden Juden ermordet und nach der Rückereroberung durch die Rote Armee 1945 galten Juden als Zionisten und alle Deutschen pauschal als Kollaborateure. Ein Bekenntnis zur deutschen Volkszugehörigkeit oder, noch schlimmer, der Besitz von Papieren, die diese Zugehörigkeit beweisen, wäre lebensgefährlich gewesen. Also besaß Solomon S. überhaupt keine Papiere, weder über sich noch seine Eltern. Er besaß nur sein deutsch gefärbtes jiddisch und die Erinnerung an Erzählungen, daß der Vater aus Furcht vor den Nazis 1934 aus Dresden nach Lettland flüchtete und dort ein deutsch-jüdisches Landmädchen heiratete.

Ein Dokument war nachgebessert

Esther A. hingegen, die deutsch mit einem russischen Akzent spricht, besaß ein Dokument. Freilich kein Orginal, sondern die Durchschrift einer 1948 in Riga nachträglich ausgestellten Bescheinung, daß sie geboren wurde. Ein Vater ist in diesem Dokument überhaupt nicht eingetragen, eine Nationalitätenbezeichnung für die Mutter fehlt.

Und genau dieses Dokument, das hat das Amtsgericht Tiergarten in einem aufwendigen Prozeß bewiesen, hat ein »Unbekannter« nachgebessert. Das Gericht ließ extra einen Sachverständigen vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden einfliegen. Und der bewies anhand von Folien, Schreibmaschinenanalysen und Farbproben, daß die Orginaldurchschrift zerschnitten und für die Mutter ein Papierschnipsel mit der Nationalitätenbezeichnung »Deutsch« eingefügt wurde. Im gleichen Arbeitsgang soll die uneheliche Esther A. auch noch einen polnischen Vater erhalten haben. Dieses vervollständigte Papier hätten die beiden dann nachträglich von einem (getäuschten) Amt beglaubigen lassen und als »echte« Geburtsurkunde bei den deutschen Behörden eingereicht. Auch dafür wurden Zeugen bestellt und angehört. Die ganze Sache flog auf, als das Bundesverwaltungsgericht 1989 in letzter Instanz entschied, die beiden seien keine Deutschen. Bei einer anschließenden Hausdurchsuchung fand man ausgerechnet auch noch eine Kopie der unverbesserten Rigaer Durchschrift von 1948. Seit diesem Tag hatten sie sich auch mit dem Vorwurf des Urkundenmißbrauchs herumzuschlagen, jetzt sind sie dafür bestraft worden.

In einem Prozeß freilich, der mehr als befremdlich und eigentlich schon vor Beginn der Verhandlung verloren war. Die beiden Angeklagten hatten keinen Rechtsanwalt, nicht einmal einen Pflichtverteidiger und alle ihre Einwände, Erklärungen und Rechtfertigungen, daß alles ganz anders und vor allem im großen Zusammenhang des vergeblichen Kampfes um Anerkennung gesehen werden muß, wurden von der Vorsitzenden Richterin Müller »als nicht zur Sache gehörend« beiseite gewischt. »Wir verhandeln hier nicht Ihren Abstammungsnachweis«, stellte sie gleich zu Anfang fest und insistierte unbarmherzig auf ihrem Fahrplan. Und dies höchst aggressiv, mehrfach mit überkippender Ungeduld, laut bis fast an die Schmerzgrenze.

»Drücken Sie hier nicht auf die Tränendrüse«, fauchte sie Solomon S. an, als der gestenreich beteuerte, er wolle doch nichts anderes »als in Deutschland als deutscher Jude leben«. Und als er erklärte, daß er »nie glauben könne, daß all die Gesetzbücher herausgegeben werden, um einem Juden das Leben schwerzumachen«, handelte er sich beinahe ein Ordnungsgeld ein. Nicht ein einziges Mal während der dreistündigen Verhandlung ließ die junge Richterin Müller die Angeklagten ausreden.

Die deutsche Richterin fuhr aus der Haut

Nicht ein einziges Mal fragte sie: »Warum?« Und als Solomon S. dem Schriftsachverständigen, der nach Angaben der Richterin schon fast 50 (!) Jahre im Dienst ist, eine entlastende, in Moskau nachträglich ausgestellte und beglaubigte Urkunde vorlegen wollte — wichtig, denn er habe sie erst kürzlich über die deutsche Botschaft erhalten — fuhr die Richterin aus der Haut. Es wäre ja unerhört, daß Solomon S. versuche, »auf Kosten des Gerichts irgendwelche Dokumente prüfen zu lassen«.

Nun ist, sicher nicht nur für die Anklagevertreter, die Verwendung einer »verbesserten« Geburtsurkunde etwas Schwerwiegenderes als der Gebrauch einer fotokopierten BVG-Monatskarte. Das hatte die Richterin auch mehrfach ausgeführt. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, warum hier in einem aufwendigen Prozeß und mit Höchststrafen zwei Juden abgeurteilt wurden, deren Hauptschuld es ist, als Deutsche anerkannt zu werden. Zwei aus Osteuropa stammende Juden, die nicht wie es Joseph Roth vor der Shoa schrieb, Berlin als Durchgangsstation begriffen, sondern die trotz der Shoa in Berlin leben wollen.

Im Zweifelsfalle und unter besonderer Berücksichtigung des Unglücks, das der Hitler-Stalin-Pakt über Lettland brachte, hätte es dem Bundesverwaltungsgericht und in Folge auch dem Amtsgericht Tiergarten angestanden, sich bei der Rechtsprechung auch von moralischen Grundsätzen leiten zu lassen. Doch dieses Gericht führte die Tradition der »furchtbaren« Richter fort.