Ein paar Zeilen in der Zeitung

■ Interview mit Xavier Koller, dem Regisseur von „Reise der Hoffnung“

Der schwarze Tanner (1986) war bisher sein erfolgreichster Kinofilm. Knapp 20 Jahre arbeitet der Schweizer Xavier Koller jetzt im Filmgeschäft. Mit seinem neuen Film Reise der Hoffnung über türkische Asylbewerber in der Schweiz gewann Koller den diesjährigen Oscar für den besten ausländischen Film.

Christine Deggau: Haben Sie sich lange mit dem Gedanken getragen, einen Film über Asylanten zu drehen? Was gab den Anstoß?

Xavier Coller: Im Oktober 1988 saß ich im Zug auf dem Weg nach Paris, und da habe ich in einer Zeitung ein paar Zeilen gelesen über einen Vorfall am Splügenpaß. Einer türkischen Familie war bei ihrer Flucht in die Schweiz ihr siebenjähriges Kind erfroren. Das hat mich nicht mehr losgelassen, ständig habe ich darüber nachgedacht, was das wohl für Menschen sein mögen, was nehmen die auf sich, um das vermeintliche Paradies oder die Glückseligkeit, wie sie es nennen, zu erreichen? Wir wissen doch nichts über die Menschen, die Informationen und Fakten, die wir haben, bringen sie uns nicht näher. Ich habe mich dann hingesetzt und 25 Seiten heruntergeschrieben: eine Geschichte, wie ich sie mir dachte. Als ich dann wieder in der Schweiz war, habe ich angefangen zu recherchieren und festgestellt: Die Geschichte gibt es!

Wie waren die Recherchen?

Es gibt ja unzählige Organisationen, die über Flüchtlinge arbeiten. Die haben mir ihr Material zur Verfügung gestellt. Dann war ich in der Türkei, in Anatolien, und habe die Familie, über die in der Zeitung zu lesen war, besucht. An die Schlepperorganisationen kommt man natürlich nicht heran, die funktionieren so unauffällig und schnell wie die Mafia.

Auch ein Film über die Schlepperorganisationen hilft denen, die aus der Türkei herauswollen, nicht weiter ...

Nicht jede Aktion geht so dramatisch aus wie unsere im Film. Und für viele Menschen ist es die letzte und einzige Chance, irgendwo anzukommen. Natürlich wird das ausgenutzt; die Nachfrage bestimmt den Preis: 1988 waren es für einen Übertritt 1.500 Franken, heute sind es 4.500. Und jede Nacht kommen immer noch 30 Leute über die Grenze.

Kannten die türkischen Schauspieler das Problem auch selbst, von Freunden vielleicht?

Bei 70 Millionen Türken ist nicht jeder betroffen. Geschrieben wird darüber fast nie, das Problem gibt es offiziell nicht, genausowenig wie Kurdistan. Wir haben in der Nähe der Familie in Anatolien gedreht, und irgendwann war die Mutter dann auch bereit, über das, was sie damals erlebt hatte, zu sprechen. Der Rest ist komponiert, ein Erlebnisfilm fürs Kino.

Manchmal spielen Sie sehr mit Kontrasten, manche Bilder stehen fast im Widerspruch zum realistischen Hintergrund der Geschichte.

Wir haben nichts anderes getan, als das aufzunehmen, was da war. Am Anfang das Wärmegefühl, die Harmonie. Was folgt, ist die Entwurzelung, und die ist schmerzhaft. Weniger als die Realitäten interessierten mich die Gefühle solcher Entwurzelten. Die Bilder, die ich gewählt habe, sollen ein Innenleben darstellen.

Der Gefahr von Sentimentalitäten und Rührseligkeiten sind Sie allerdings nicht erlegen...

Das entspricht mir auch nicht. Ich bin kein sentimentaler Mensch. Ich sage immer: Ich will die Gefühle nicht auf der Leinwand, sondern lieber im Zuschauerraum erzeugen.

Das mit den Gefühlen auf der Leinwand ist ja so eine Sache ... Sie haben die letzten zwei Jahre in Amerika gelebt. Was haben Sie vom amerikanischen Kino gelernt?

Es gibt große Qualitäten des amerikanischen Kinos, vor allen Dingen beim Erzählkino. Es herrscht eine unglaubliche Selbstdisziplin, gerade bei der Autorenschaft: Fürs Kino zu schreiben, ist eine ganze eigene, leidenschaftliche Angelegenheit. Was die Industrie daraus macht, ist etwas anderes. Aber diese Leidenschaft, die müssen wir erst wieder entwickeln, um das Publikum zu erreichen. Bei unseren Filmen sagt man „wunderbar“, aber niemand will sie sehen. Da müssen wir uns doch fragen: Warum ist das so? Wie vermittle ich eine Geschichte, bei der das Publikum mitgeht? Da geht es nicht mehr um „mein Geheimnis“ auf der Leinwand. Wenn man nicht versteht, was ich meine, dann habe ich etwas falsch gemacht. Das Gespräch führte Christine Deggau

Xavier Koller: Reise der Hoffnung, mit Necmettin Cobanoglu, Nur Surer, Schweiz 1989, O.m.U. 110 Min.