Bomben beenden kurze Freiheit

■ Der Angriff der Regimetruppen auf Arbil löste Panik und eine Massenflucht aus/ Flüchtlinge werden auf der Straße beschossen/ Enttäuschung über die USA

Die schwere Eisentür ist eingetreten, auf dem Boden liegen Knüppel, Voltmesser und dicke Eisenstangen. Der finstere Raum wird nur von einer Fackel erhellt. „Hier ist wohl mein Bruder letztes Jahr gestorben“, sagt mein Begleiter Hassan mit erstickter Stimme. „Die Sachen hier habe ich vorige Woche mit eigenen Händen verwüstet.“

Wir befinden uns im ehemaligen Gefängnis der kurdischen Provinzhauptstadt Dihok im Irak. Am 14.März war dieses Gefängnis der Ausgangspunkt des Aufstands gewesen. Bewaffnete Einwohner hatten zunächst den Kerker gestürmt und alle Gefangenen freigelassen, dann gingen sie zum Angriff auf andere öffentliche Gebäude über. „Wir hatten schon zwei Wochen vor dem Aufstand eine Nachricht der Kurdischen Front erhalten“, erklärt Ibrahim Ali Misuri, einer der angesehensten Stammesfürsten aus Dihok. „So hatte ich meine Männer entsprechend vorbereitet. Nachdem wir den Anfang gemacht hatten, strömten alle auf die Straße, und innerhalb von sechs Stunden hatten wir Dihok erobert.“ Wie auch in anderen kurdischen Städten richteten selbst die Djesh, eine vom Regime aufgestellte kurdische Miliz, ihre Waffen gegen die Soldaten Saddam Husseins.

Nach der Eroberung der Stadt strömten die Bewaffneten — darunter auch Frauen — in die Umgebung, wo die Regimetruppen ebenfalls keinen großen Widerstand leisteten. Kurdischen Angaben zufolge gab es 22 Todesopfer und zwei- bis dreihundert Verletzte. Der größte Teil der Gefangenen wurde mit Ausnahme von hohen Funktionären des Regimes nach einigen Tagen wieder freigelassen.

Viele Peschmergas und Vertreter der verschiedenen kurdischen Organisationen, aber auch Fachleute kamen im Zuge des Aufstands zum ersten Mal seit mehreren Jahren wieder über Syrien oder den Iran nach Kurdistan. Sie beteiligten sich nun am Aufbau einer provisorischen Verwaltung. Doch der Frühling der Freiheit in Irakisch-Kurdistan währte nur kurz. Nach der Rückeroberung des Erdölzentrums Kirkuk, bei der auch Napalm eingesetzt wurde, wie aus der Umgebung mit bloßem Auge zu erkennen war, begann auch die Bombardierung anderer kurdischer Städte wie Dihok, Zakho und Arbil, wo in der Nacht zum 31. April die ersten Bomben fielen. Morgens um 6.30 Uhr wurden dann mehrere Wohnviertel der Stadt gleichzeitig unter Beschuß genommen. Dies war der Moment, in dem die Massenflucht einsetzte.

500.000 Menschen unterwegs zur Grenze

Es herrschte eine totale Panik. Alles was vier Räder hatte, wurde mobilisiert. Überall balgten sich die Menschen um das rationierte Benzin; Frauen liefen in Hausschuhen aus den Gebäuden und versuchten verzweifelt, auf einen der Lastwagen aufzuspringen; der Verkehr brach völlig zusammen. Die Straße nach Salahaddin in Richtung der Grenze zur Türkei war von den frühen Morgenstunden an verstopft. Ab 8.30 Uhr wurden dann auch die Flüchtlinge beschossen; manche Geschosse gingen kaum einen Kilometer neben uns nieder. In wilder Panik versuchten die Menschen, sich unter den Fahrzeugen zu verstecken. Um zehn Uhr wurde auch Salahaddin angegriffen. Auch hier Panik und Massenflucht. Viele versuchten gar nicht erst mehr, ein Fahrzeug zu finden, sondern rannten einfach los, zum Teil nur in den Kleidern, die sie gerade trugen. Es mögen etwa 500.000 gewesen sein, die an diesem Tag zur türkischen oder iranischen Grenze unterwegs waren.

Doch es gab auch Gegenverkehr: Immer wieder begegnen uns Konvois bewaffneter Kämpfer, die aus dem Iran kommend an die Front unterwegs waren. Vor allem die Provinz Suleimaniya, die einzige, die noch unter kurdischer Kontrolle ist, wird im Moment erbittert verteidigt. Die Nähe zur iranischen Grenze dürfte dabei ein Vorteil sein.

Sprecher der Kurdischen Front, eines Zusammenschlusses verschiedener Organisationen, setzten sich unterdessen nachdrücklich für die Entsendung von UNO-Friedenstruppen nach Kurdistan ein. Enttäuscht zeigen sich viele Kurden vor allem über die Haltung der USA. „Die USA haben gesagt, irakische Flugzeuge dürften nicht starten“, beschwert sich der Kommandant des Frontabschnitts Kustepe, einer turkmenischen Stadt zwischen Arbil und Kirkuk, die die irakische Armee wieder unter ihre Kontrolle gebracht hat. „Aber von Kostepe starten jeden Tag Hubschrauber und bombardieren Kirkuk. Amerikanische Kampfflugzeuge überfliegen nachts die Frontlinien, und kurz darauf fangen zielgerichtete Bombardements der Iraker an“, behauptet der Kommandant weiter. Zu überprüfen sind solche Anschuldigungen nicht.

„Amerika heuchelt!“, meint auch Djalal Talabani, der Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans. „Amerika und alle Staaten, die gegen Saddam in den Krieg gezogen sind! Keiner dieser Staaten hat uns bis jetzt auch nur ein Paket Babynahrung, geschweige denn Waffen geschickt. Ein freies Kurdistan, das nicht am grünen Tisch, sondern aus der eigenen Kraft der Kurden entsteht, liegt nicht im Interesse dieser Staaten.“ Lizzy Schmidt, Kurdistan/Irak