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Neue „fünfte Kolonne“ bei den russischen Kommunisten

■ Die eigentliche Unterstützung für Jelzin auf dem Volksdeputiertenkongreß Rußlands war die Spaltung der kommunistischen Fraktion

Moskau (taz) — „Mein General grüßt mich nicht mehr“, antwortete Oberst Alexander Rudskoj in einem Privatgespräch auf die Frage, welche direkten Folgen sein Auftreten auf dem Ende letzter Woche beendeten Kongreß der Volksdeputierten der Russischen Föderation für ihn persönlich hatte. Seinen neuen Spitznamen „russischer Dubcek“, wehrt er allerdings bescheiden ab. Rudskoj wurde über Nacht zum Helden der demokratischen russischen Presse, nachdem er auf dem Höhepunkt des Kongresses — in der Raucherecke — spontan und handstreichartig etwa 170 Deputierte der Kommunistischen Partei unter der Devise „Na los, helfen wir Boris ein bißchen!“ um sich sammelte. Die Gruppe „Kommunisten für Demokratie“, die sich aus diesem Kreise anschließend bildete, bewirkte letzten Endes, daß der „Versuch eines parlamentarischen Umsturzes seitens der Rechten“ in Rußland abgewehrt werden konnte. Dieses Fazit zog der Vorsitzende des Nationalitätensowjets der RSFSR, Ruslan Chasbulatow, auf einer Pressekonferenz am Sonnabend.

Die Folgen dieser Wende sind unabsehbar. Daß sich nach dem geschlossenen Auszug der „Demokratischen Plattform innerhalb der KPdSU“ auf dem 28. Parteitag im vorigen Juli ein neue, und diesmal sehr viel größere, „fünfte Kolonne der Perestroika“ innerhalb der Partei gebildet hat — dieser Umstand hat die unerwarteten Beschlüsse auf dem Kongreß erst ermöglicht, die endlich — so scheint es — im größten Staat der UdSSR den Weg zur Demokratie und zur Marktwirtschaft freigeben.

Sondervollmachten für Jelzin — die allerdings strenger parlamentarischer Kontrolle unterliegen — und die Direktwahl des Präsidenten der RSFSR im kommenden Juni werden den Weg für eine Direktwahl auch der Abgeordneten durch das Volk ebnen. Es ist daher nur logisch, wenn jetzt schon die Übernahme einer Reihe von verfassungsmäßigen Vollmachten des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR durch den russischen Obersten Sowjet beschlossen wurde.

Mit einem wichtigen Antragsbündel hat die russische Regierung auf dem zurückliegenden Kongreß allerdings vorerst verspielt. Dazu gehören die Forderungen nach Auflösung der Parteizellen in Armee und KGB. Wenn man in diesem Falle rein formal argumentieren kann, daß Armee und KGB als unionsübergreifende Einrichtungen nicht der rein russischen Gesetzgebung unterliegen, so ist dies in bezug auf die dritte Forderung nicht mehr möglich: ein Runder Tisch aller gesellschaftlichen Kräfte, zuerst in Rußland, dann in der ganzen UdSSR. Das Konzept eines Runden Tisches als übergreifende „provisorische Koalitionsregierung des Vertrauens aller Parteien, Nationalitäten und sozialen Klassen zur Abwendung der Katastrophe in Rußland“ veröffentlichte Oleg Rumjanzew, Autor der gegenwärtigen russischen Verfassung und Vorsitzender der „Sozialdemokratischen Partei Rußlands“ schon am 7. März in 'Moscow News‘. Die Nationalitäten- und die soziale Frage begünstigen heutzutage nicht nur einen „Sturz“ Gorbatschows, sie machen auch der russischen Regierung schwer zu schaffen. Ein Projekt zur „territorialen und nationalen Neuordnung“ der RSFSR mit ihren zahlreichen nationalen Minderheiten und „autonomen Republiken“ ist zur Überarbeitung an die Komissionen verwiesen worden und wird den Hauptgegenstand des nächsten „ordentlichen“ Kongresses der Volksdeputierten Rußlands in etwa einem Monat bilden. Ziel: die Russische Föderation für die kleinen Nationen so attraktiv zu machen, daß sie an eine direkte Unterordnung unter die UdSSR-Zentralregierung nicht mehr denken.

Und was hat die russische Regierung zum Beispiel den Verbrauchern oder Bergleuten zu bieten? „Alle Frauen sind jetzt wie Megären, entschlossen zu einem blindwütigen Brotaufstand“, sagte mir eine russische Nachbarin nach den ersten Erfahrungen der zwei- bis dreifachen Lebensmittelpreiserhöhung seit dem 2. April. Besonders betroffen sind die streikenden Bergleute: Nach den letzten Vereinbarungen mit der Unionsregierung erhalten nur solche Gruben „Rekompensationsmittel“ für die Preiserhöhung, die den Plan erfüllen. Inzwischen wird auch Gobatschow durch Streiks völlig neuer Art in die Enge getrieben: In Weißrußland streiken zum ersten Mal die Angestellten der hochqualifizierten und hochprivilegierten Rüstungsbetriebe. Früher oder später — so scheint es — gehört der „Runde Tisch“ auch für die Zentralregierung auf den Tisch! Barbara Kerneck

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