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Neue Ost-West-Drehscheibe rotiert in den Köpfen

Ab heute dürfen Polen ohne Visum nach Deutschland einreisen/ Grenzen der Freundschaft enden spätestens bei Neonazis/ Einkaufstourismus in den Grenzstädten Frankfurt/Oder und Slubice: Der Rubel rollt nun bald auf beiden Seiten/ Stadtoberhäupter sehen dem Rummel gelassen entgegen  ■ Von D. Kuhlbrodt/D. Wenner

Frankfurt/Oder (taz) — „Grenze der Freundschaft“ nannte man früher die Oder, an deren Ufer auf der Frankfurter Seite heute zuweilen Westler mit japanischen Geschäftsleuten flanieren und über geheime Dinge reden, während im Hintergrund auf romantisch-verwilderten Fußballplätzen trainiert wird. Auf der anderen Seite liegt Slubice, Frankfurts frühere „Dammvorstadt“. Ab heute darf die Nation der „Waisenkinder“ (Walesa) visafrei nach Deutschland einreisen.

In das 17.000 Einwohner zählende Grenzstädtchen fahren in umgekehrter Richtung auch die Deutschen gerne — zum Freizeitanzüge- und Pulloverkaufen, zum Tanken (80 Pfennig pro Liter Normalbenzin) und Zigarettenholen (11 DM die Stange). Am Osterwochenende überquerten 95.000 Bundesbürger die beiden Oderbrücken. Diesen ziemlich einseitigen Einkaufstourismus erwähnen die Frankfurter eher selten, wenn von der „drohenden Flut“ der Polen die Rede ist.

Die meisten erklären ihre eigenen Stippvisiten als natürliche Reaktion auf das knappe Arbeitslosengeld in den gebeutelten fünf neuen Ländern, finden tausend Gründe für die antipolnischen Ressentiments „der anderen“ und befürchten ab Montag „Mord und Totschlag“. Selbst eher aufgeschlossene Bürger sprechen in Zusammenhang mit der Grenzöffnung vor allem von „Opfern“, die Frankfurter bringen müßten, vom „Preis“ der Freiheit, den man zu zahlen hätte, und erwägen bereits, die Grenze wieder dichtzumachen, wenn die Kriminalität signifikant ansteigen würde.

„Kein Pole kommt nach Deutschland!“ haben sich die Neonazis aus Gesamtdeutschland auf die Fahnen geschrieben. Das will der 'Oder-Anzeiger‘, ein kostenloses Frankfurter Anzeigenblatt mit einer Auflage von 96.000 Exemplaren, aus „gut informierten Kreisen“ erfahren haben. Der Aufmacherartikel vom 4. April erregte die Gemüter: Unter dem Titel „Neonazis kommen an die Oder“ kündigte die Zeitung einen Aufmarsch an, der die „Polenbrut“, so Neonazi-„Führer Kühnen“ vertreiben wolle.

Jürgen Kotterba, Redakteur des 'Oder-Anzeigers‘, der seine Zeitung als Interessenvertretung für eine „saubere Region“ versteht, sieht sich als Aufklärer. Woher er seine Informationen über die geplanten Neonazi-Aktivitäten habe? — Da könne er nichts Konkretes mitteilen, sagt er zunächst, um dann doch etwas von einem Geschäftsmann zu munkeln, der mit Frankfurter Rechtsradikalen liiert sei. Näheres habe er nur der Kripo mitteilen können.

Im zuständigen Polizeiquartier fürchtet man die angekündigten oder herbeigeredeten Ausschreitungen dagegen nicht. Sicher sei man dem Zeitungsbericht nachgegangen, doch habe der sich „nicht hundertprozentig“ bestätigt, erklärt der diensthabende Wachtmeister, freundlich-wohlig in sich hineinlächelnd. Mit „verstärktem Dienst“ werde man dem höheren Verkehrsaufkommen Rechnung tragen und die öffentliche Ordnung und Sicherheit gewährleisten. Sicher käme es auch in Frankfurt ab und zu zu Rangeleien, doch das wären nur — hier suchte der Kommissar eine verträumte Minute lang nach dem Wort — „dumme Kinderstreiche“. Und wenn man vernünftig mit denen reden würde, würden die auch vernünftig antworten.

Wie viele Polizisten werden nun im Einsatz sein, wie viele sind es normalerweise? — „Am Montag werden so viele dasein, wie gebraucht werden.“ Die Beamten an der ehemaligen „Friedensbrücke“ geben sich ähnlich gelassen. Der Tonfall allerdings, mit dem ein Westzöllner von „unseren polnischen Freunden“ spricht, scheint das Gegenteil besagen zu wollen.

Selbstkritische Äußerungen, was den Rassismus betrifft, hört man in Frankfurt selten. Eine mit einem Polen verheiratete Frau zeigt sich besorgt über nie gehörte Rassismen ihrer NachbarInnen und meint über den riesigen „Polenmarkt“ in Slubice: „Die Deutschen würden die Polen erschlagen, wenn die sich so aufführen würden, wie wir es drüben tun.“

Am Wochenende vor dem 8.April war in den Kaufhallen diesseits der Oder ein geschäftiges Kommen und Gehen zu beobachten. Viele Familien decken sich — auch auf Empfehlung der 'Märkischen Oderzeitung‘ — mit Vorräten ein, „damit wir die nächsten Wochen nicht aus'm Haus gehen müssen“. Zwar droht nach Auskunft des Filialleiters des EKZs (Einkaufszentrums) „Halbe Stadt“ keine Warenknappheit — Rewe und andere Supermarktketten können tagtäglich umdisponieren und auf veränderte Nachfrage reagieren —, aber „die Erfahrungen von früher stecken den Leuten noch in den Knochen“. In den siebziger Jahren bis zur Solidarność-Zäsur hätten die Polen der ehemaligen DDR einfach „ziemliche Löcher in die dünne Warendecke gerissen“ und die Gewinne dann „umgerubelt“ — das hat man hier noch nicht vergessen.

Handelt es sich bei diesen Empfindungen nunmehr — nach Einzug des Kapitalismus — um Phantomschmerzen, sind die Ängste der Frankfurter um ihre Arbeitsplätze ziemlich real. Das Halbleiterwerk in Markendorf — 8.000 Beschäftigte dazumal — wird gerade abgewickelt, und für die kleineren Betriebe der Grenzregion gilt als repräsentativ, was ein Oderländer Obstplantagenchef seinen Arbeitern zur Entlassung mit auf den Weg gegeben hatte: „Wenn der Pole für drei Mark arbeitet, nehm' ich doch lieber den.“

Was der Produktion die niedrigen Löhne, sind dem Handel höhere Umsätze. „Wenn die Unternehmen mit offensiven Marktstrategien auf die Grenzsituation antworten, kann die Region Frankfurt/Oder zur prosperienden Ost-West-Handelsdrehscheibe werden. Dazu aber braucht es die Offenheit der Menschen“, meinte ein Essener Diplomkaufmann auf der Durchreise.

Der „Tip. Ehrlich. Diskont.“ ist einer der Supermärkte, die termingerecht geplant haben. In Fertigbauweise hat man eine Kaufhalle neben die Schwimmhalle gestellt. In den etwa zwölf bereits etablierten Großraumgeschäften investierte man vorerst nur in höhere Ausgaben für die Ladendiebstahlsabwehr. „Wir erwarten eine Menge Vertreter von der Firma ,Klau & Lange‘, erzählte ein Filialleiter, während sich seine Kollegin verschmitzt eine „Milde Sorte“ vom Polenmarkt ansteckte.

„Wie Gäste empfangen“

Im Rathaus erwartet man die Veränderungen an der EG-Außengrenze ohne sichtbare Nervosität. Oberbürgermeister Dr. Denda macht zur Empörung seiner Gemeinde gerade jetzt vier Tage Urlaub, und sein Stellvertreter Ewert (SPD) wünscht sich, daß die Frankfurter ihre polnischen Nachbarn „wie Gäste empfangen“.

Slubices neugewählter Bürgermeister Ryszard Bodziacki hofft zwar auch auf Ruhe und Toleranz, möchte, daß die „Frankfurter zu uns zum Spaziergang kommen, die Ruhe genießen, dem Gezwitscher der Vögel zuhören...“ Aber ein Vergleich, den er gegenüber der 'Märkischen Oderzeitung‘ zur Lage beiderseits der Oder anstellte, läßt tiefer blicken: „Nun kann man das Ganze in etwa damit vergleichen, daß zwei unterschiedlich große Kugeln zur gleichen Zeit vom Berg ins Rollen gebracht werden. Die größere ist Europa, die kleine, das Kullerchen, ist Slubice. Letztere wird nur von der größeren unter Druck gebracht, sogar übersprungen.“

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