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Kanzlerwetter für Kohl in Erfurt

Zum ersten Mal seit der Bundestagswahl traut sich der Kanzler in den Osten/ Ein Privatbesuch oder kein Privatbesuch?/ Eier auf Kohls Anzug und eine verpaßte Pressekonferenz  ■ Aus Erfurt Henning Pawel

Mahnend rufen die Erfurter Glocken vom Dom. Es ist Sonntag. Noch dazu Kanzlersonntag. Helmut Kohl am Thüringer Himmel. Kanzlerwetter ist auch. Es nieselt und kriecht feucht ins Gebein. Er fliegt gerade ein mit einer Cesna. Begrüßung auf dem Flugplatz durch Ministerpräsident Duchac und andere Honoratioren. Blick auf die Uhr. „Mensch“, sagt der Kanzler zu Duchac, „wir sind ja viel zu früh.“ Wären ein paar oder wenigstens zwei Gegendemonstranten am Flughafen gewesen, schon hier hätte der Protest einsetzen können. Denn er kommt ja nicht zu früh. Viel zu spät fliegt er ein ins infarktbedrohte grüne Herz Deutschlands. Aber es sind halt keine Demonstranten da. Woher denn auch? Die Sache verlief ja heimlich. Blitzschnell von heute auf morgen. Noch dazu ursprünglich als reiner Privatbesuch angekündigt. Denn Privatbesuche, der Kanzler kennt seine Thüringer, sind denen heilig. Es kann einer sonstwas auf dem Kerbholz haben, kömmt er privat, noch dazu am Sonntag und vorgeblich nicht in Wiederholung seiner bösen Tat ins Ländle, dem Menschen wird kein Haar gekrümmt. Spott und Anzüglichkeiten allerdings, die hagelt's. Wenig später dann Relativierung des Privaten. Nun ist auf einmal von halb und halb die Rede. Zur Hälfte privat, zur anderen aber dienstlich will er kommen. Die Thüringer wissen sofort Bescheid. Halb und Halb, eine einst hochgerühmte und vielgesoffene Likörsorte in hiesigen Breiten. Das Manko aber nach dem Rausch: Kotzübelkeit, mitunter gar Lähmung, sogar Blindheit waren die Folgen.

Die Domglocken leisten Großes. Der Kanzler nähert sich. Nun meldet sich auch Gloriosa, eine der weltgrößten Glocken, zu Wort. Nur zu ganz großen Feiertagen wird ihr die Zunge gelöst. Heute ist ein solcher. Inmitten der silbernen Stimmen der kleineren Schwestern der fast schon rülpsende Baß der uralten. Der Kanzler im Dom. Zwar noch leidend im Fleisch wegen der gerade durchlittenen St. Pöltener Diät, aber im Geiste hochgemut. Denn keinem, er weiß es, wird ein Leid geschehen an dieser hochheiligen Stätte. Selbst Hexen und Zauberer fanden im Mittelalter hier Schutz. An den mächtigen Mauern zerplatzten wirkungslos sogar Granaten. Tomaten? Du lieber Gott. Und es flogen ja auch keine. Jedenfalls noch nicht. Nach dem geistlichen Zuspruch dann das Bad in der 60köpfigen Menge. Ein paar Dutzend Enthusiasten riefen dünnmäulig: „Helmut, Helmut!“. „Danke für die Einheit“, rief einer und weinte hemmungslos. Zwei Pfiffe und Buhrufe, dazu ein kläffender Yorkeshire-Terrier, die einzigen Oppositionellen.

Dann Stadtrundgang. Natürlich streng geheim der Parcours. Vorbei am Gericht, am Rummel. Scheuer Blick die Andreasstraße hinunter zur einstigen Zwingburg der Stasi. Dann Schwenk in die Altstadt, große Arche, Hochzeitshaus (Frau Hannelore ist immer dabei). Nächster Ort der Wallfahrt das katholische Krankenhaus St. Nepomuk. Auch hier sonntägliche Ruhe und der Kanzler noch immer in völliger Sicherheit. Diesem Haus mit seinen tüchtigen Ärzten und den gütigen Ordensfrauen schuldet fast jeder in Erfurt unendlich viel. Mindestens aber Frieden. Deshalb auch friedlich das Mittagsmahl des hohen Gastes im Krankenhaus. Ehrlich, nur ein Teller Krankensuppe, zwei Scheibchen Brot und ein Schälchen Kompott. Dann Gespräche mit den Rekonvaleszenten. Was er diesmal versprochen hat? Heilung? Nur gewünscht soll er sie den Patienten haben. Aber bessere Zeiten. Darauf besteht der Kanzler. Die wollte er auch hoch und heilig den im Landtag versammelten Bürgermeistern und Landräten versprechen.

Bevor er jedoch dazu kam, hatte sich nun endlich das besuchsgeschockte Oppositionspotential formiert und empfing Helmut und sein Gefolge am Thüringer Landtag mit einem Leichenzug. Der Wohlstandsstaat wurde zu Grabe getragen. Unter den massenhaft Trauernden der Kanzler selbst. Jedenfalls sein Double. Mahnend sprach auch Stefan Heym von Kassette auf den Kanzler ein. Doch endlich Vernunft anzunehmen, riet der große alte Sachse dem störrischen Oggersheimer, und zurückzutreten. Doch Helmut nahm keine Vernunft an. Noch nicht einmal als tausendstimmig Sprechchöre einsetzten bei der Anfahrt des nun Leibhaftigen. „Lügner!“ „Zurücktreten!“ „Raus!“ „Betrüger!“ Die Sperren wurden niedergerissen, Kanzler und Ministerpräsident flohen. Nun auch Erinnerung an Ostern. Es liegt ja gerade eine Woche zurück. Flugeier. Sie zerplatzten teils wirkungslos an den Landtagsmauern, teils wirkungsvoll am vorwiegend violetten Anzug der Kanzlerbekleidung. Dann Fototermin. Er war noch oder schon wieder bestens gekämmt, der Kanzler, und atmete trotz des raschen Eierlaufes keinen Atemzug schneller. Zur Stunde ratschlagt er noch mit den kommunalen und regionalen Politikern, wie alles besser zu machen ist. Gegen 17 Uhr dann Pressekonferenz, die der Autor aber nicht mehr besuchen kann. Denn er ist im Wort bei dieser guten Zeitung, den Artikel noch rechtzeitig zu liefern. Ein Wortbruch, verlockend zwar wegen all der journalistischen Köstlichkeiten, die noch ins Haus stehen. Pressekonferenz und Kanzlerabfahrt. Auch nach weiteren Eiern wurde bereits geschickt. Dennoch nicht akzeptabel. Das Wort zu brechen, überlasse ich anderen.

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