Demokratie auf dem Abstellgleis

In Bulgarien werden die Forderungen nach Neuwahlen lauter/ Enthüllungen über angebliche frühere Stasi-Tätigkeit von Abgeordneten der „Union der demokratischen Kräfte“  ■ Aus Sofia Roland Hofwiler

Die bulgarische Opposition hatte am Dienstag zu einer Großdemonstration in Sofia aufgerufen. In den frühen Abendstunden kamen denn an die 20.000 Menschen zusammen, die sofortige Wahlen forderten. Aber die Parole wurde anders als im vergangenen November nicht mit Musik, Happenings und bunten Plakaten vorgetragen. Die DemonstrantInnen warteten geduldig die Reden der Oppositionsführer ab, nach zwei Stunden ging man friedlich nach Hause.

Auch in der bulgarischen Donaustadt Russe riefen StudentInnen zum Streik auf und verlangten ebenfalls die Auflösung des Parlaments. Bulgariens politisches Leben hat sich in nur wenigen Monaten radikal verändert. Die Politikverdrossenheit der Bevölkerung ist erschreckend.

Ein Blick zurück: Nach dem Sturz des KP-Chefs Todor Schiwkow Ende 1989 waren nach den ersten Mehrparteienwahlen, die zur „Sozialistischen Partei“ mutierten Erben Schiwkows siegreich hervorgegegangen. Nach heftigen Unruhen im Herbst 1990 war schließlich die oppositionelle „Union der Demokratischen Kräfte“ mit einer sogenannten Expertenregierung an die Macht gekommen. Entgegen einer damals getroffenen Absprache will diese aber von Neuwahlen in diesem Mai nichts mehr wissen.

Die neuen Demokraten haben es sich plötzlich anders überlegt. Dies vor allem deshalb, weil ihre Aussichten auf einen Wahlsieg sich seit dem letzten Herbst rapide verschlechtert haben. Der Hungerwinter, die zunehmende Arbeitslosigkeit und steigende Preise werden ihnen zur Last gelegt. Zu allem Überdruß kommt auch noch im Zuge des Schiwkow- Prozesses seit Februar die zwielichtige Vergangenheit mancher Parlamentarier ans Licht. Das Massenblatt 'Fax‘ enthüllt in Fortsetzungen, daß mindestens 28 der 399 Abgeordneten hohe Offiziere der Staatssicherheit waren. Zum Erstaunen der Bevölkerung kommen allein 25 aus den Reihen der „Demokratischen Kräfte“. Unter ihnen Ex-Chef Petar Beron, einst auch er ein Liebling Schiwkows. Als er sich Dienstag auf der Rednertribüne zeigte, wurde er von den DemonstrantInnen ausgebuht. Wie ein Traumtänzer nimmt er nicht wahr, daß seine Popularität dahin ist. Man verzeiht ihm nicht, daß er Weggefährten an die Politische Polizei verraten hat, von denen so mancher hinter Gitter kam, während er zu einer Karriere als „Demokrat“ durchstartete.

„Verrat“ und „Betrug“ sind auch jene Schlagwörter, mit denen seit Tagen jede Parlamentsdebatte ihren Auftakt nimmt. Während das Land in eine immer größere politische und wirtschaftliche Krise schlittert, sind alle parlamentarischen Entscheidungen gelähmt. Dabei ist keine Zeit mehr zu verlieren. Denn das derzeitige Parlament fungiert nur als „konstituierende Volksversammlung“. Sie soll innerhalb von anderthalb Jahren die sozialistische Verfassung, in der noch keine Menschrechte verankert sind, durch eine neue demokratische ersetzen. Diese Zeit läuft ab, ohne daß man dieser Verpflichtung einen Schritt näher gekommen wäre. Quer durch alle Parteien, die alle ohne Ausnahme von heftigen Flügelkämpfen und Abspaltungen heimgesucht werden, bestehen konträre Meinungen, wie Bulgarien ein demokratischer Staat werden könnte.

Das Problem bei all diesen Gedankenspielen: Es findet sich für keine der Optionen eine parlamentarische Mehrheit — und so kommen nicht einmal die einfachsten Beschlüsse zur Wirtschaftssanierung zustande.