: »Friedensratschlag« ist wieder aktiv
■ Wissenschaftler diskutieren auf dem Breitscheidplatz die Ökokatastrophe am Golf/ Juri Shcherbak, ukrainischer Schriftsteller, Arzt und Abgeordneter, erinnerte an Tschernobyl
Breitscheidplatz. Am selben Ort und zur selben Zeit, wo eine Demonstration gegen den Völkermord an den Kurden ihren Anfang nahm, tagte zum ersten Mal seit dem offiziellen Ende des Golfkriegs wieder der »Friedensratschlag«. Fand er während des Krieges fast täglich statt, so können sich Diskussionswillige zukünftig jeden Mittwoch von 18 bis 20 Uhr vor der Gedächtniskirche einfinden. Den schwierigen Anfang der neuen Reihe machten vorgestern abend deutsche und sowjetische Wissenschaftler. Unter Leitung von Sebastian Pflugbeil, Berliner Abgeordneter des Bündnis 90 und seit langer Zeit für die »Kinder von Tschernobyl« aktiv, diskutierten sie die ökologische Katastrophe in der Golfregion.
Professor Josef Nietsch, Physiker an der Humboldt-Universität, erinnerte noch einmal daran, daß es noch nie eine Meereskatastrophe solchen Ausmaßes gegeben hat. »Wenn das Öl sich ausgebreitet hat, klumpt es zusammen und fällt zu Boden. Großflächig wird also der Meeresboden mitsamt seinen Mikroorganismen zerstört, die die Nahrungskette begründen.« Ein »totales Umkippen des Persischen Golfs« wollte er nicht ausschließen.
Dr. Peter Carl, Physiker am Ostberliner Institut für Elektronenphysik, beschäftigte sich hingegen mehr mit den Folgen für das Klima. Daß die Auswirkungen der gigantischen Brände bislang auf die Region beschränkt blieben, sei kein Grund zur Beruhigung. Nach seinen eigenen Berechnungen würden sich die Feuer auch auf den Monsunregen in Südasien auswirken, der womöglich zwei bis vier Wochen früher und sehr viel stärker einsetzen würde. Was längerfristig mit all den Schadstoffen passiere, wollte er nicht vorhersagen, »diese Prozesse der globalen Chemie laufen jenseits unserer Wissensgrenze ab«. Zwar glaube auch er nicht an eine weltweite Erwärmung durch das freigesetzte Kohlendioxid. Aber das Methan, das bei der Ölverbrennung ebenfalls freigesetzt werde und 1.000 bis 2.000mal aggressiver wirke als das Kohlendioxid, trüge möglicherweise doch zu einem »merklichen globalen Treibhauseffekt« bei. Allerdings: »Es gibt kein Modell, um das zu berechnen, wir operieren an der Grenze des Wissens.«
Dr. Martin Deeken von den Ärzten zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) zählte die gesundheitlichen Risiken auf, die der Bevölkerung der gesamten Region durch die Ruß- und Rauchwolken drohen: »Husten, Bronchitis, Asthma, in einigen Jahren Lungenkrebs.« Da die Rußpartikel mit einer feinen, giftigen Ölschicht überzogen seien, richteten sie im Organismus weitere Schäden an, die sich in »Benommenheit, Schwindel, Anämie, Nieren- und Leberschäden sowie Nervenentzündungen« äußerten. Die Sterblichkeit bei Kindern und alten Leuten steige rapide an.
Der aus Kiew stammende Arzt und Schriftsteller Juri Shcherbak fühlte sich hier an eine ähnliche erschreckende Anhäufung von Krankheiten erinnert, wie sie im radioaktiv verseuchten Gebiet um Tschernobyl festgestellt wurde. Darüber hinaus, so der inzwischen zum Abgeordneten im Obersten Sowjet avancierte Aktivist, der als »grünes Flaggschiff der Ukraine« gilt, »gibt es die psychologischen Auswirkungen. Wenn ein Mensch eine solche Katastrophe erlebt hat, ist er traumatisiert fürs Leben und glaubt, er erlebe das Ende der Welt.«
Doch trotz der auffordernden Bemerkung Sebastian Pflugbeils, endlich »die Wirtschaftsleute und Militärs als Verbrecher zu benennen«, wollte eine anschließende Diskussion, die diesen Namen verdiente, unter den Zuhörenden nicht in Gang kommen. Die Redebeiträge einiger männlicher Selbstdarsteller waren unter jedem Niveau. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, den Friedensratschlag im Freien mitten unter Krethi und Plethi tagen zu lassen. Ute Scheub
Ab heute um 15.30 Uhr werden Shcherbak und andere sowjetische Wissenschaftler auf der dreitägigen Informationsveranstaltung »Fünf Jahre nach der Katastrophe in Tschernobyl« im Neubau der Charité auftreten, Hermann-Matern-Straße 10-14, Hörsaal.
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