: Seelenfreude nach Maß
■ Die Freie Volksbühne spielt Aischylos‘ Zeitstück »Die Perser« in der Regie von Christof Nel
Einst waren Kriegsdienst und Dichtkunst noch eins. Die eine erhöhte den anderen, der andere ermöglichte die eine. Theorie und Praxis des griechischen Lebens fanden in der Tragödie zusammen. Also zog der Athener Aischylos nicht nur in den Krieg gegen die Perser, sondern stellte die wenigen Überlebenden jener Schlacht bei Salamis, die das Ende der Vormachtstellung des Perserreichs bedeutete, acht Jahre später als Figuren auf die Bühne. Heute harren wir der Memoiren des Siegers Schwarzkopf, damals aber war es einem Aischylos offenbar möglich, ein Stück über die Besiegten aus der Perspektive der Besiegten zu schreiben, das mehrmals und mit Erfolg zur Aufführung kam.
Wahrscheinlich nicht nur wegen der Aktualität des Stoffs; damals zollte man, so legt der Text nahe, den gegnerischen Kriegshelden Anerkennung, solange sie, Städte einnehmend, aber »nicht vom Herd fortstrebend« die gegenseitigen Großmachtansprüche respektierten. Sinn der ausschweifenden Klage der Perser über ihre Niederlage, die nur wenig dramatische Struktur, dafür eine strukturelle Dramatik bietet, scheint also die Bestätigung griechischer Werte, Maß statt Überhebung, nicht aber etwa ein pazifistischer Aufschrei über die Grausamkeit des Krieges gewesen zu sein. Das Ergebnis bleibt sich gleich: Aischylos läßt nur einen einzigen — Xerxes — zu seinem Herrscherhaus zurückkommen, wo er sich gegenüber seiner Mutter Atossa, dem toten Vater Dareios und einem vielstimmigen Chor verantworten muß. Die Tragödie Die Perser folgt dem Verursacherprinzip. Der Rest ist eine lange Klage.
Dem Rest zum Recht verhilft Christof Nels Inszenierung in der Freien Volksbühne. Es klagt und klagt und klagt. Schon die schweren Hammerschläge zu Beginn klagen, dann klagt der große Silberglobus, dessen Außenhaut rhythmisch geräuschvoll durch eine Drehbühne gestreift wird, etwa so, wie wenn Fingernägel über den Topfboden kratzen (und ruft damit noch bevor das Stück richtig beginnt, Klagen im Zuschauerraum hervor). Kaum beginnt es aber, wird die Drehbühne durch eine weiße, lange Klagemauer abgeschirmt, um sich nie wieder zu öffnen. Mit Klagemauern, Sehschirmen ist der gesamte, verkleinerte Zuschauerraum abgeschirmt, damit dahinter die Schauspieler, die den Chor darstellen, ungesehen hin- und herlaufen, hindurchsprechen und sich dramatisch zeigen können, wenn es die Regie erlaubt.
Das aber kommt selten vor; bevorzugt werden wir dem Dunkel und jenen Textsalven ausgeliefert, zu denen der Übersetzer Peter Witzmann und sein Bearbeiter Heiner Müller die griechischen Originalverse zugespitzt haben. Das Dunkel macht Sinn, läßt sich Heiner Müllers Kommentar zur Bearbeitung entnehmen, sind doch die Übertragungen selber dunkel, »flüchtigen Lesern schwer zugänglich«. Wort für Wort, trägt er uns auf, haben wir den Text zu lesen und zu hören, und anders ließe sich, da der Zeilensprung sauber deklamiert wird, der Text im Theater tatsächlich nicht zur Kenntnis nehmen. Müller weiter: »Die Dunkelheit erhellt den Abstand zwischen Aischylos und uns.« Geballter Abstand, verstehen wir, und jetzt enträtseln wir auch plötzlich, was uns, den Eingeschlossenen, die Stimme hinter der Wand sagen will: »Mit übler Vorahnung allzusehr quält sich/ Innen der Sinn...«
Es ist mit dieser Inszenierung ungefähr so, wie mit Huillet/Straubs Verweigerung, den Cineasten den gewohnten Bildausschnitt zur Verfügung zu stellen. Eine bestimmte, uninteressante Stelle unterhalb des Knies des sprechenden Protagonisten bleibt minutenlang im Bild. Ähnlich huldigt Nel den Tönen und Geräuschen, ohne sie zu hierarchisieren. Zwischen den pathetischen Klagen, Blixa Bargelds minimalistischen Schnarr- und Sägeklängen, oder gar vereinzelten Walkie-Talkie-Gesprächsfetzen (vielleicht von Bühnenarbeitern, die bis zu ihrem Einsatz auf der hinteren Bühne vor den Seilen, mit denen sie Lampen bedeutungsvoll verschieben, herumlungern) scheint in der Bedeutung keine Differenz.
Die Spielszenen wirken dagegen anachronistisch. Atossa, Gel im Haar und Kunstpelz auf der Schulter, schiebt sich expressiv an der weißen Wand entlang, starrt, ganz Tragödin, immerfort fragend den Boten mit der schlechten Nachricht an. Der tote, wiederauferstandene Dareios hat ein Blatt Papier im Gesicht, gibt sich aber ansonsten normal. Die Chorfrauen und -männer, frühe, körperbemalte Stadtindianerinnen, gestikulieren und kratzen auch mal an der Volksbühnentür, wenn ihnen danach ist. Und Xerxes, zu groß, zu trampelig für die kleine Bühne, was ihm sichtbar zum Verhängnis werden muß, bringt seinen neumodischen Köcher mit, aus dem er effektvoll die Toten, roten Staub herunterrieseln läßt.
Kolportagenhaft oder parodistisch ist das aber bei weitem nicht gemeint. Nur der Wirklichkeit der Zuschauerin soweit entrückt, daß sie immerfort einen tieferen Sinn bis zum Beweis des Gegenteils vermuten muß. Nels Kongenialität besteht darin, die Erwartungen auf den Tiefstand zu senken, so daß die Fallhöhe zum ungeahnten Erlebnis wird. Für die Strapazen des Ausharrens belohnt schon ein staunendes »Oh«, in den Zuschauerraum gesprochen oder ein gleichmütig gesprochener Vers: »Ich gehe wieder weg, hinunter in das Dunkel der Erde./ Ihr aber, ihr Alten, lebt wohl, in Übeln dennoch/ Der Seele Freude gebend nach dem Maß des Tags...« Wer fühlte sich davon nicht angesprochen? Dorothee Hackenberg
Die Perser von Aischylos in der Freien Volksbühne. Regie: Christof Nel. Raum/Licht: Michael Simon. Musik: Blixa Bargeld. Darstellerinnen: Sybilla Meckel, Kerstin Rahn, Barbara Stanek,Dagmar Menzel, Michael Kind u.a.
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