INTERVIEW: „Die legale Linke ist am Verlieren“
■ Der peruanische Sendero-Experte Gustavo Goritti über die Aktionen von Sendero in den Städten/ Hauptkampfstätten sind die Gewerkschaften/ „Die Elendsviertel, die Sendero kontrolliert, werden immer mehr“
taz: Ist es für eine Gruppe, die die „Städte vom Land her umzingeln“ will, kein Widerspruch, verstärkt in den Städten zu agieren?
Goritti: Als der Krieg begann, definierte Sendero das Land als Hauptkampfplatz, sah aber gleichzeitig die Stadt als „notwendige Ergänzung“ an. Diese leichte Abwandlung der orthodoxen maoistischen Doktrin entspringt der Kenntnis der demographischen Struktur Perus. Die große Landflucht der 50er und 60er Jahre hat einen Großteil der Bevölkerung in die Stadt gebracht, und in den Elendsgürteln um Lima herum zu arbeiten, ist auch eine Art, die traditionelle Stadt zu umzingeln. Trotzdem war die Rolle der Stadt das Thema bitterer Diskussionen innerhalb von Sendero. 1980, als der Krieg gerade begann, wurde Guzmán des „Hoxhismus“ beschuldigt. In der Doktrin des Aufstandes von Enver Hoxha in Albanien waren Stadt und Land ebenbürtig. Diese Anschuldigung scheint Guzmán damals bekümmert zu haben, und für lange Zeit wurde erneut die Rolle des Landes unterstrichen. Erst seit 1986/87 wird die Präsenz in den Gewerkschaften und anderen städtischen Organisationen verstärkt und der Stadt wieder Bedeutung zugemessen.
Über welche Organisationen verfügt Sendero in der Stadt?
Sendero, also die Kommunistische Partei Perus, befindet sich hinter einer Reihe von Organisationen, den „Organismos Generados“. Der Dachverband dieser Organisationen ist in der Stadt der MRDP, die „Revolutionäre Bewegung zur Verteidigung des Volkes“; auf dem Land sind es die „Verteidigungsfronten der regionalen Interessen“. Die Organismos Generados versammeln die Leute nach Kriterien wie Alter, Herkunft, Geschlecht und Arbeit: also die Feministische Volksbewegung, die Jugendbewegung, die Einheitsfront der Schüler und die Bewegung der Arbeiter und Bauern, die das größte Organismo Generado ist. In der Stadt funktionieren auch noch eine Reihe von Dienstleistungsorganisationen: die „Rote Hilfe“, die nicht nur eine mit dem Roten Kreuz vergleichbare Funktion hat, sondern auch innerhalb Senderos Sozialarbeit leistet; die Propaganda-Organisationen und eine Reihe anderer, unabhängigerer Gruppen wie etwa die „Demokratischen Rechtsanwälte“, die die verhafteten Senderos verteidigt. Was den bewaffneten Kampf angeht, hat Sendero Lima in vier mit den Himmelsrichtungen identische Zonen aufgeteilt. Die Sektoren sind wiederum in Zonen aufgeteilit. Es gibt bewaffnete Gruppen, die in einem einzigen Sektor arbeiten, gleichzeitig aber auch spezielle Kommandos, die direkt dem „Metropolitanischen Komitee“ unterstehen.
Wie infiltriert Sendero die Gewerkschaften?
Sendero hat auf dem Gewerkschaftssektor zwei große Organisationen, die in den beiden wichtigsten Industriegebieten Limas agieren: der Avenida Argentina und der noch wichtigeren Carretera Central. Das „Kampfkomitee“ der Carretera Central setzt sich aus all den Fraktionen, Zellen und Sympathisantenorganisationen zusammen, die etwas mit Gewerkschaften zu tun haben. Normalerweise bringt Sendero seine Leute in die Gewerkschaftsbasis ein und führt gut vorbereitete und von außen her unterstützte Aktionen durch. Dabei gilt es, Vollversammlungen zu provozieren, in denen die traditionellen Gewerkschaftsführungen des Verrats und der Zusammenarbeit mit der Unternehmensführung beschuldigt werden, sowie die Arbeitskonflikte so weit wie möglich zu eskalieren, um sie dann mit bewaffneten Aktionen „überschwappen“ zu lassen. In dem Maße, in dem Sendero mit dieser Taktik immer mehr Erfahrung und auch die eine oder andere lokale Basis gewann, werden auch kaltblütig rein terroristische Methoden angewandt: etwa indem Unternehmer während eines Streiks oder sogar Arbeiterführer, die vorher ausgiebig diskreditiert wurden, ermordet werden. Außerdem hat Sendero die Aktionen in den Gewerkschaften noch einmal mit Landbesetzungen verstärkt. Die neuen Stadtviertel werden von den Senderistas kontrolliert und erlauben ihnen, über territoriale Basen zu verfügen, die in der Nähe der am meisten infiltrierten Industriezentren liegen.
Es läßt sich also innerhalb der Stadt von „befreiten Gebieten“ reden?
Es gibt Elendsviertel, in die die Polizei nicht ohne weiteres hineinkommt, und die 24 Stunden am Tag von Sendero kontrolliert werden — und es werden immer mehr. Außerdem ist ein Großteil der Fabriken an der Carretera Central von Sendero infiltriert.
Hat die legale Linke es geschafft, Sendero aufzuhalten?
Ich glaube, daß die legale Linke eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, den Vormarsch Senderos zu verlangsamen. Sie hat Meter um Meter um die Kontrolle der Gewerkschaften gekämpft und so den Vormarsch Senderos beträchtlich gebremst — selbst wenn sie in vielen Konfrontationen verlor. Die legale Linke hat weder die Disziplin noch die Mittel von Sendero. Einer der Dinge, die uns noch bleiben, ist es, die Arbeit der Linken zu schützen — auch in dem Sinn, ihr zu helfen, sich in ein loyales und der Schuldkomplexe freies Mitglied der demokratischen Legalität zu verwandeln. Ohne Zweifel ist die Linke jene individuelle Gruppe, die auf nationaler Ebene am meisten den Vormarsch Senderos gebremst hat.
Sie hat ihn gebremst, aber nicht gestoppt?
In einigen Gegenden hat sie Sendero stoppen oder gar zurückdrängen können: im Süden der Provinz Cajamarca etwa, wo die Linke die bewaffneten Nachbarschaftsrunden kontrolliert. Woanders dagegen ist Sendero, trotz der Bemühungen der Linken, immer wieder zurückgekehrt und hat sich durchgesetzt. Ich glaube, daß dies auch im Industriegebiet der Carretera Central geschehen ist: ein gradueller Rückzug der Linken, die um jeden Spaltbreit kämpft, und doch meiner Ansicht nach am Verlieren ist. Interview: Ciro Krauthausen
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