: Die Verlassenen von Tschernobyl retten sich selbst
■ Am 26. April 1986 explodierte der vierte Block des Atomreaktors im ukrainischen Tschernobyl und veränderte schlagartig das Leben von Millionen Menschen. Während die staatlichen...
Die Verlassenen von Tschernobyl retten sich selbst Am 26. April 1986 explodierte der vierte Block des Atomreaktors im ukrainischen Tschernobyl und veränderte schlagartig das Leben von Millionen Menschen. Während die staatlichen Maßnahmen zur Umsiedlung aus der verseuchten Region in der allgemeinen Wirtschaftskatastrophe versacken, versuchen örtliche Aktivisten mit Hilfe des Berliner Vereins „Kinder von Tschernobyl“ auf eigene Faust, im Norden Belorußlands eine neue Heimstatt zu errichten.
Als die eifrige deutsch-russische Baumannschaft die quaderförmige Apparatur nach der ersten Probepressung öffnete, floß ihr eine kuchenteigähnliche Masse vor die Füße. Doch die Enttäuschung währte nur kurz. Das Mischungsverhältnis der Zutaten Lehm, Sand und Beton wurde so lange variiert, bis das aus dem Ausland importierte Gerät wenig später das produzierte, was man von einer „Lehmziegelpresse“ wohl verlangen darf: feste, ungebrannte Ziegel, die wegen ihrer wärmedämmenden Eigenschaften geschätzt werden. Eine zusätzlich günstige Eigenschaft vor allem, daß das erforderliche Gerät bequem zu transportieren ist. Die Szene spielte sich Mitte März im nördlichen Belorußland, in der Nähe des Örtchens Tscherzy ab, 300 Kilometer entfernt von den seit nunmehr fünf Jahren hochverstrahlten Gebieten im Süden der Sowjetrepublik. Die Maschine stammt aus Deutschland. Mit dem eher unspektakulären Beginn der Ziegelproduktion in dem kleinen Ort Tscherzy trat die internationale Hilfe für die Opfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in eine neue Phase. Erstmals nämlich hat sich ein ganzer weißrussischer Kolchos entschlossen, der verstrahlten Heimat auf eigene Faust, wenn auch nicht ohne Unterstützung von außen, den Rücken zu kehren. Eine „Selbstrettungsaktion“ nennt das Gennadij Gruschewoi, Aktivist des Komitees Kinder von Tschernobyl in Minsk.
Strahlenflüchtlinge werden vielerorts wie Aussätzige behandelt
Unter den skeptischen Blicken der staatlichen Behörden, deren eigene Umsiedlungsprogramme mehr und mehr in der allgemeinen Wirtschaftskatastrophe versacken, sollen in der wenig besiedelten und von der Strahlung aus Tschernobyl weitgehend verschonten Gegend demnächst 100 Häuser für etwa 1.000 Menschen in „Lehmziegelbauweise“ errichtet werden. Treibende Kraft auf russischer Seite ist der Kolchosvorsitzende Gregorij Masur. Er habe erlebt, sagt der rührige Mann, wie einige seiner Leute das Dorf verließen und später „als gebrochene Menschen wieder in das verstrahlte Gebiet zurückkehrten“. Seine Lehre aus diesen Erfahrungen: „Den Ausbruch aus der Heimat kann man nur gemeinsam schaffen.“
Tausende von Kilometern reiste Masur durch die Lande, ehe er auf vier Dorfgemeinschaften im Norden Belorußlands traf, die bereit waren, die ansonsten häufig wie Aussätzige geschnittenen Strahlenflüchtlinge aufzunehmen. In der neuen Heimat soll ein staatlicher Saatgut-Prüfbetrieb entstehen, der auch dem heruntergekommenen Kolchos von Tscherzy auf die Beine helfen könnte. Für die Einheimischen sollen ebenfalls etwa 50 neue Häuser gebaut werden.
Im Mai soll mit dem Bau der ersten Häuser begonnen werden
Doch aller Elan hätte Masur und seinen Mitstreitern wenig geholfen, weil es in der Region praktisch unmöglich ist, an die für die Umsiedlung nötigen Baumaterialien heranzukommen — auf privater Basis, außerhalb der staatlichen Bürokratie, schon gar nicht. Über die Minsker Aktivisten wurde deshalb der Kontakt zum Berliner Verein „Kinder von Tschernobyl“ geknüpft, der im letzten Jahr den Startschuß gegeben hatte für die „Verschickung“ Tausender Kinder aus den verstrahlten Gebieten nach Westeuropa. Der Verein suchte und fand die Firmen, die in der Lage sind, Maschinen zur Betonsteinfertigung für die Fundamente und für eine kontinuierliche Ziegelproduktion bereitzustellen. Bauingenieure engagierten sich, Häuser wurden projektiert, die ersten Maschinen aus Spendenmitteln gekauft und vor Ort transportiert. Im Mai soll Baubeginn der ersten Ein- oder Zweifamilienhäuser sein.
Lebensbedingungen langfristig verbessern
Es sei schon eine „außergewöhnliche Geschichte, daß Leute in der Krisenregion es satt haben, auf den Segen von oben zu warten“, freut sich Sebastian Pflugbeil, Abgeordneter des Neuen Forums im Berliner Abgeordnetenhaus und gemeinsam mit seiner Frau Christine Initiator des Vereins „Kinder von Tschernobyl“. Wirklich erfolgreich könne das private Umsiedlungsprojekt angesichts Hunderttausender Menschen in den verstrahlten Gebieten allerdings nur werden, wenn es das Startsignal für viele ähnliche werde. „Sollte nicht jedes reiche Land, jede Architektengemeinschaft und jedes Bauunternehmen, das etwas auf sich hält, die Patenschaft über die Umsiedlung eines Dorfes übernehmen?“, fragt Pflugbeil.
Das Umsiedlungsprojekt ist nur eines von vier von dem Berliner Verein gemeinsam mit den privaten Betroffenen-Initiativen angeschobenen Hilfsprojekten. Gemeinsam ist allen diesen Programmen der Anspruch, über die „schnelle und provisorische Hilfe hinaus langfristig die Lebensbedingungen in der Krisenregion zu verbessern“. Das bedeutet auch: Man möchte soweit wie eben möglich unabhängig werden von den wechselnden Konjunkturen der Spendenfreudigkeit.
„Sehr dringend“, sagt Gruschewoi, sei insbesondere die Versorgung der Kleinkinder mit unverstrahlter Nahrung. Sie reagieren am empfindlichsten auf die radioaktiven Stoffe, die sich in ihren Körpern anreichern. Deshalb soll gegen Ende des Sommers in der Nähe des umgesiedelten Kolchos der Grundstein gelegt werden für eine Produktionsstätte für Babynahrung, die am Ende die Versorgung aller belorussischen Kinder unter einem Jahr mit unbelasteter Nahrung sicherstellen soll. 400.000 Mark wird das Unternehmen kosten, in dem mit Hilfe einer Münchner Firma zwei bis drei Produkte aus aufgeschlossenem und getrocknetem Getreide hergestellt werden können. 200.000 Mark fehlen noch — aber auch anderes: zum Beispiel etwa 200 Bienenvölker. Die könnten den Honig liefern, der das Ganze für die Kleinen nicht nur gesund, sondern auch schmackhaft macht. Der Berliner Verein, der dieses Projekt in Kooperation mit den Müttern und Vätern gegen atomare Bedrohung betreut, hat sich deshalb besonders an Imker gewandt, die einige ihrer Völker entbehren können. Das Getreide wird, so ist es geplant, Gregorij Masurs staatliche Saatgutprüfstation aus biologischem Anbau beisteuern. Erhebliche Bauchschmerzen bereitet den deutschen Helfern inzwischen manche gut gemeinte Unterstützung auf medizinischem Gebiet. Die werde zwar von Jahr zu Jahr dringlicher, meint beispielsweise der Münchner Strahlenmediziner Professor Edmund Lengfelder, der sich bereits mehrfach in den verstrahlten Regionen aufhielt. Allzu häufig werde jedoch medizinische Hochtechnologie aus Spendenmitteln nach Belorußland (wo im übrigen 70 Prozent des Fallouts aus dem explodierten Reaktor in der Ukraine niederging) geschafft — die dort entweder wegen mangelnder Ausbildung der einheimischen Ärzte oder fehlender Chemikalien und Verbrauchsmitteln bald in irgendeiner Ecke verstaube.
Glaube an Omnipotenz westlicher Medizin
Christine Pflugbeil nennt ein anderes Problem: Vor Ort entwickle sich zunehmend „ein Wunderglaube an die Fähigkeiten der westlichen Medizin“. Immer mehr Eltern versuchten deshalb, ihre schwerkranken Kinder — auch solche, die nicht an Leukämie oder anderen strahleninduzierten Krankheiten leiden — in den gelobten Westen zu schaffen. Jede intensiv-medizinische Behandlung koste hierzulande aber Hunderttausende Mark, die dann für den Aufbau dezentraler Behandlungseinrichtungen vor Ort fehlten.
Als sinnvollste medizinische Hilfe fördert der Verein — in Kooperation mit verschiedenen Ärztegruppen — sogenannte „Krankenhauspartnerschaften“, die dauerhafte Kontakte und gegenseitige Besuche erlauben und den russischen ÄrztInnen die Möglichkeit für Hospitationen und Weiterbildung im Westen ermöglichen. Eine aktuell ins Leben gerufene Partnerschaft zwischen der Klinik im weißrussischen Slowgorod und der Uni-Klinik Ulm ist allerdings bisher die Ausnahme. Grund: Insbesondere mit den KollegInnen in den alten Bundesländern scheitert manches Engagement schon an den Sprachbarrieren.
Schließlich gehen in diesem Jahr die von der Minsker Stiftung „Kinder von Tschernobyl“ initiierten Erholungsbesuche von Kindern aus belasteten Gebieten weiter. Im vergangenen Jahr reisten 7.000 Schulkinder zwischen neun und fünfzehn (mit Eltern auch jüngere) in acht verschiedene Länder. Für dieses Jahr liegen bereits 4.000 Einladungen von Familien aus dem Ausland vor.
Gennadij Gruschewoi beklagte anläßlich eines Kongresses in Berlin vor zwei Wochen die nach wie vor kritische Haltung der staatlichen sowjetischen Stellen gegenüber diesen Besuchen. In Wirklichkeit bedeuteten die Kontakte viel mehr als physische Hilfe für die Kinder: „Sie bereiten den Weg für eine neue Zivilisation.“ Gerd Rosenkranz
Spenden für die Hilfsprogramme des Vereins „Kinder von Tschernobyl“ e.V., Rosa-Luxemburg-Str. 19,
O — 1020 Berlin, Tel.-Nr.: 2826745; 2806403; (0161) 1309100
Spendenkonten:
Berliner Commerzbank (BLZ 12040000): Konto 022338800
022338801: Kindernahrung
022338802: Projekt Umsiedlung
022338803: Projekt Erholung
022338804: Medizinische Hilfe
Sparkasse (BLZ 10050000), Konto-Nr.: 640019900
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