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TEMPO UND STILLSTAND

■ Die stille Revolution hat auch den Bahnhof Leipzig erfaßt. Die Weichen sind auf Zukunft gestellt - nach dem Kästchen-Prinzip der Foto-Fix-Ideologie

Die stille Revolution hat auch den Bahnhof Leipzig erfaßt. Die Weichen sind auf Zukunft gestellt — nach dem Kästchen-Prinzip der Foto-Fix-Ideologie.

VONCHRISTOFBOY

Eine Kaltfront über Osteuropa hatte sich stabilisiert und ließ sich nicht beeindrucken von einer atlantischen Störung, die angesichts des kräftigen Hochs nach Norden abzog — einen Schwall milder Meeresluft nach Nordeuropa mitreißend. Austauscharme Luftschichten begünstigten eine Inversionswetterlage, die ihr übriges tat, um die bereits von Abgasen übermäßig verschmutzte Luft noch rußiger wirken zu lassen. Es war ein schöner, kalter Tag, wie ihn die Leipziger hassen. Die Luft war stickig und so voller Rußpartikel, daß man meinen konnte, jeden Augenblick würden sie sich zusammenballen und als Braunkohlenbriketts vom Himmel regnen.

Die Sonne hatte Mühe, sich durch den Dunst zu quälen — mittags schon würde sie hinter dem Vorhang aus Smog untergegangen sein. Aber genau das war die richtige Menge Licht, die ausreichte, um den Bahnhof von Leipzig zu verzaubern. Durch hoch oben angebrachte Fenster fielen die Sonnenstrahlen in die Haupthalle ein und verwandelten den Bahnhof in eine Kathedrale des Lichts. Eine leere, weitläufige Halle, durch nichts unterbrochen als durch eine flache, langgezogene Vitrine mit den Fahrplänen, ein Raumerlebnis, das durch die langen Lichtfinger der Vormittagssonne dramatisch aufgehellt wurde.

Bahnhöfe gelten als Orte des Durcheilens und nicht des Verweilens. Der Eindruck des Reisenden bleibt ein flüchtiger, der des Pendlers ein gewohnter. Bahnhöfe sind dazu da, um abzufahren und anzukommen — ein intimeres Verhältnis wird dem vorbehalten bleiben, der sich Zeit nimmt. Aber wer hat die schon? Kaum ein Leipziger wird eine Vorliebe für den Bahnhof entwickelt haben, denn ewig unpünktliche und überfüllte Züge, kalte Abteile und unfreundliche Schaffner der Reichsbahn haben das Verhältnis zu dem 1915 fertiggestellten Bau abgekühlt. Zu einer Liebeserklärung an den Bahnhof wird sich hier niemand bereit finden — vielleicht in ein paar Jahren, wenn alles zu spät ist.

Das Zauberland. Es liegt abseits der Fahrpläne, abseits der ein- und auslaufenden Züge, abseits des gesamtdeutschen Hanges zur Geschwindigkeit in Form des IC-Zuges namens Johann Sebastian Bach, der Leipzig mit Westdeutschland in Gleichschritt bringen soll. Endstation Leipzig, das heißt in einem Sackbahnhof — oder im Fachjargon Kopfbahnhof — auszusteigen. Vielleicht ist das eine Voraussetzung dafür, jenes seltsame zeitliche Nebeneinander von Tempo und Stillstand, von Hektik und Muße erleben zu können. Die Zeit scheint tatsächlich stillzustehen in diesem Mausoleum der Fortbewegung.

Eine sächsisch angehauchte Lautsprecherstimme plärrt noch immer im Auftrag des Kollektivs der Bahnbediensteten, doch bitte die Bahnsteige und Wartehallen sauberzuhalten. Ein alter Mann verkauft Eintrittskarten für den Zoo — auf dem Billetthäuschen thront ein Tiger, geformt aus Plaste und Elaste. Und in den Gleisen warten Züge, abfahrbereit und unter Dampf, aber nicht nostalgische Dampfloks sind es, die dort qualmen, sondern die undichten Heizungsventile der Waggons hüllen die Bahnsteige mit weißen Wolken ein. Für die Obdachlosen, die seit der Wiedervereinigung von Tag zu Tag zunehmen, ist der dampfende Waggon ein untrügliches Zeichen, daß in den Abteilen ein warmes Plätzchen zu finden ist. Bis zur Abfahrt des Zuges verkriechen sie sich hier — ab und zu von einem Schaffner beim kurzen Nickerchen gestört und rausgeworfen.

Seit der Wiedervereinigung wirkt der ganze Bahnhof wie ein großer Wartesaal der Ungleichzeitigkeit — eine Skizze der Ex-DDR im kleinen. Noch ist das Alte überall sichtbar, in dem riesigen Wandmosaik des VEB Landmaschinen mit dem überdimensionalen Mähdrescher oder in den Briefkästen, wo direkt unter der deutschen Inschrift das russische Wort für „Briefe“ steht. Aber nicht zu übersehen sind die Zeichen der Inanspruchnahme des Geländes durch westliche Geschäftsleute, die vorgeben, den Fortschritt zu bringen.

Der Fortschritt heißt Currywurst und „Hoffmanns Pilztopf“. Noch ist nicht abzusehen, was die Planierraupen-Politik westlicher Planer diesem Bahnhof bringen wird, aber die Vorhut des großen „Staubsaugers der Modernisierung“ (Hans Magnus Enzensberger) gibt zu erkennen, daß sie den Bahnhof noch weniger als die Leipziger Bürger selbst als architektonisches Raumwunder erkennt. Zwischen die steinernen Bögen, die die weit gespannten Stahlkonstruktionen der Vorhallen tragen, haben alerte „Art Directors“ alles gehängt, was ein Bahnhof braucht: riesige Werbetafeln für „Clausthalers alkoholfrei“. Die Vorortzüge — das gibt es selbst bei der Bundesbahn nicht — fahren Trikotwerbung für die 'Bild‘- Zeitung, und auf der weitläufigen Fläche der Haupthalle haben Händler Büdchen an Büdchen gepflanzt. Alles atmet den Geist der Foto-Fix- Automaten. Auch sie haben den Bahnhof Stück für Stück erobert, klein und häßlich und an jeder Ecke einer, aber die Grundversorgung der Bevölkerung mit Paßbildern ist garantiert.

Daß es im Land der neuen Kaufkraft, endlich und vollkommen erwartet, auf dem Bahnhof Gyros vom Griechen gibt, ist nicht verwunderlich und auch nicht strittig. Zu befürchten bleibt nur, daß nach den Goldgräbern mit den Imbißstuben im Anhänger Schreibtischplaner kommen werden, die ebenfalls keinen Blick haben für die Schönheit des Bahnhofs. Sie werden alles daran setzen, Leipzig zu einer Verkehrsdrehscheibe des Ostens umzukrempeln. Irgendwann wird er dann verschwunden sein, dieser winzige Unterschied, den das Warten vom Abfertigen trennt, der aber die ganze Atmosphäre des Bahnhofs ausmacht.

Auch dann wird das Licht weiter durch die vor Staub fast erblindeten Fenster scheinen, aber es wird nicht mehr die Ausstrahlung haben wie an jenem Novembertag vor über einem Jahr, als die Menschenschlange sich wie ein Lindwurm durch die Kassenhalle wand. Die einen standen nach Fahrkarten in die Freiheit an, die anderen wollten Geld umtauschen. Die stille Revolution hatte den Bahnhof erfaßt — und ihn aus dem Schlummer gerissen. Was jetzt aus ihm wird — die ersten unübersehbaren Zeichen verheißen wahrlich große Pläne. Die Weichen sind auf Zukunft gestellt — nach dem Kästchenprinzip der Foto-Fix-Philosophie. Hier eine Schachtel und dort eine Schachtel, immer schön klein-klein. Und die etwas strengen Chemikalienschwaden, die diesen Kleinformatvervielfältigungsmaschinen entsteigen: ja, das ist der Duft der großen weiten Welt.

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