An den Arbeitern führt kein Weg vorbei

■ Die streikenden Arbeiter sind zu einem bedeutenden politischen Faktor geworden

Es hat sehr lange gedauert, bis die ArbeiterInnen in Rußland sich zu regen begannen. Der Perestroika — so schien es über Jahre hinweg — waren nur Beine aus der städtischen Intelligenz und aus dem Reformflügel der Apparate zugewachsen, die Bevölkerung vor allem Rußlands blieb gegenüber den politischen Diadochenkämpfen an der Spitze und im Zentrum ziemlich gleichgültig. Daß der frische Wind zwar auch die „Massen“ in manchen Republiken erfaßte, entwertet dieses Argument nicht, verband sich doch hier der Aufbruch der Menschen mit Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit. Streikbewegungen, z.B. in den baltischen Ländern, waren bezogen auf die nationale Emanzipation oder, soweit sie russische Einwanderer betrafen, auf die Angst vor ihr. Soziale und politische Forderungen der ArbeiterInnen blieben so höchstens Unterpunkte in einem Forderungskatalog von breiten Volksbewegungen.

Seit den Streikbewegungen der Bergarbeiter in Rußland und der Ukraine, die im letzten Jahr begannen, hat sich diese Situation verändert. In einer Zeit, in der marxistische Kategorien verbraucht und ins Abseits geraten sind, klingt es zwar altertümlich, von einem Wiederaufleben der Arbeiterbewegung oder gar von ihrer Selbstformierung als „Arbeiterklasse“ zu sprechen. Doch drängt der Begriff wieder zur Wirklichkeit. Angesichts der marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsreformen sind in den meisten Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers lediglich Preiserhöhungen ohne Steigerung des Warenangebots durchgesetzt worden. Die soziale Lage der ArbeiterInnen hat sich dabei dramatisch verschlechtert. Da die alten Gewerkschaften diskreditiert und, vor allem in Rußland, noch immer mit dem alten Apparat verbunden sind, blieb den ArbeiterInnen nur die spontane und unmittelbare Organisierung im Betrieb, um ihre Forderungen gegenüber dem Staat zu formulieren. In klassischer Weise haben sie sich eine Rätestruktur gegeben.

Ziel ist, den Apparat der Partei zu brechen

Die Dynamik der Entwicklung hat sie sogar dazu getrieben, der leninistischen Philosophie ein auch von der kritischen Intelligenz der Sowjetunion kaum hinterfragtes letztes Terrain zu rauben. Denn gerade diejenigen, denen qua definitionem im Leninismus nur syndikalistisches Bewußtsein zugestanden wurde, haben begonnen, politisch zu agieren. Die Streikbewegung in den Bergwerken und anderswo hat den Rücktritt Gorbatschows gefordert, solange der ihr als Symbol und Vertreter des Systems erschien. Die Macht der kommunistischen Partei und ihrer Bürokratie zu brechen, ist das oftmals erklärte Ziel ihrer Vertreter. Und dieses Ziel der Streikbewegung macht sie resistent gegenüber jenen konservativen Kräften, die unter entgegengesetzten Vorzeichen ebenfalls zum Sturz Gorbatschows angetreten sind.

Die Arbeiter sind damit zu einem politischen Faktor geworden, den weder machtlüsterne Konservative noch die Reformer ignorieren können. Gleichwohl durchzieht die Streikbewegung ein nur schwerlich aufzulösender Widerspruch: Einerseits wird die Zerstörung der alten Struktur gefordert. Andererseits sind es gerade die durch die Reformen ausgelösten sozialen Probleme, die ihr auf die Sprünge halfen. Die spontane Streikbewegung kann sich erst dann zu einer neuen Arbeiterbewegung weiterentwickeln, wenn sie die unmittelbaren Forderungen in ein ihren Interessen verplichtendes Reformkonzept einzubinden weiß. Es bleibt abzuwarten, ob ihre Vertreter dazu die Kraft finden. Erich Rathfelder