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„Provokationen und Feindseligkeit“

Herbst 1956. Unruhen an den Universitäten der DDR. Kritische Intellektuellenzirkel läßt die Stasi auffliegen. All dies findet Eingang in die Geschichtsschreibung. Doch die zunehmenden Streiks und Streikdrohungen in den Betrieben des Landes damals wurden bis heute verschwiegen. Eine Recherche  ■ VON STEFAN WOLLE

Zurück aber zu der Ausgangsfrage: War der Streik der dreißig jungen Arbeiter am 30. Oktober 1956 — während des Höhepunktes des ungarischen Aufstandes — ein bedenkliches Warnsignal für die Parteiführung oder ein an sich bedeutungsloses Randereignis? Weiter gefragt: Ist also das bisher allgemein verbreitete Bild von einer politisch intakten und schweigenden Arbeiterschaft im Herbst 1956 grundsätzlich zu revidieren?

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Situation des Jahres 1956. Ende Februar war während des XX.Parteitages der KPdSU in Moskau Stalin vom Sockel einer nahezu gottgleichen Verehrung gestoßen worden. Aber nicht nur die Plötzlichkeit und Radikalität dieses Vorgangs trug Verwirrung in die Reihen der Parteigenossen, sondern mindestens ebensosehr der offenbare Widerwille der SED-Führung, diesen Erneuerungsprozeß mitzutragen. Auch in den Berichten des MfS wird dieser Zustand ausführlich und präzise reflektiert: „Immer wieder wird zum Ausdruck gebracht“, heißt es da in einem Bericht vom 14. März 1956, „daß Genossen unserer Partei unklar sind und nicht wissen, wie sie diskutieren sollen. Dabei bilden selbst Funktionäre keine Ausnahme.“ Und an anderer Stelle: „Arbeiter (darunter auch Genossen der Partei) ... stellten die Frage, ob denn jetzt die ganze Lehre von Stalin hinfällig sei und ob es denn überhaupt noch einen Sinn habe, am Parteilehrgang teilzunehmen, da sich doch die politische Situation laufend verändert.“ Im gleichen Bericht wird geschrieben: „Über den XX. Parteitag der KPdSU wird rege diskutiert... Hauptsächlich beschäftigt man sich mit der Rolle Stalins. Neben der Fragestellung, ob man hätte Stalin nicht schon früher kritisieren können, gibt es vereinzelt Äußerungen, daß es auch bei uns Personenkult gibt, wobei die Genossen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck genannt werden.“

Die letzte Bemerkung stammt übrigens von Magdeburger Bauarbeitern. Insgesamt entspricht die Einschätzung dem Bild, daß man aus der zeitgenössischen westdeutschen Presse und aus der Memoirenliteratur kennt. Keinesfalls wirkt die Darstellung des MfS zugespitzt oder künstlich dramatisierend. Auffallend ist nur, daß sich die Diskussionen über Stalin und den XX. Parteitag offenbar durchaus nicht auf Studenten und Intellektuelle beschränkten, wie dies oft behauptet wird.

Neben der Verunsicherung, die durch den Kurs der Entstalinisierung ausgelöst wurde, war es besonders der Arbeiteraufstand in Poznan, der bereits im Frühsommer 1956 wie ein Wetterleuchten die Ereignisse des Herbstes vorausahnen ließ. Im Juni kam es hier während der internationalen Messe zu Streiks und Demonstrationen, die schließlich nur noch unter Einsatz von Panzern niedergeschlagen werden konnten. Wieder hatten sich Arbeiter erhoben gegen die angebliche Arbeitermacht — diesmal in Polen. Auch die Reaktionen auf diese Vorfälle wurden vom MfS genau registriert. In einer speziellen Analyse mit dem Titel Stimmung zu den Provokationen in Poznan vom 30. Juni 1956 heißt es dazu: „Wie aus vorliegendem Material ersichtlich, wurde bisher unter allen Schichten der Bevölkerung noch nicht in großem Maße zu den Provokationen in Poznan Stellung genommen. In den bekanntgewordenen Stellungnahmen bringt jedoch die Mehrheit der Beschäftigten in der Industrie und Landwirtschaft, wie auch der übrigen Bevölkerung, ihre Abscheu gegenüber den Machenschaften der Provokateure zum Ausdruck.“ Anschließend werden eine Reihe positiver Stellungnahmen zitiert, die der offiziellen Parteipresse entstammen könnten. Es wurden allerdings auch „vereinzelt Provokationen und Feindtätigkeit... bekannt, die jedoch keine Unterstützung fanden.“ Trotzdem wird auch hier wieder die Parallele zum 17. Juni gezogen: „In einigen Bezirken wurden vereinzelt auch die Ereignisse von Poznan zum Anlaß genommen, Vergleiche zur DDR zu ziehen oder aufgrund bestehender Schwierigkeiten oder eingeleiteter Maßnahmen von einem neuen 17.6. 1953 zu sprechen. So erklärte ein Schleifer, Mitglied der SED, im VEB Roter Stern Leipzig: ,Man hat den Aufstand nur mit Panzern und Tieffliegern niederschlagen können. Dieser Aufstand kam nur zustande, weil die Versorgungslage in Polen so schlecht ist. Bei uns kann die schlechte Versorgung mit Mangelware wie HO-Butter usw. auch Anlaß zu einem neuen 17. Juni werden.‘“

Nur intellektueller Widerstand präsent

Im Oktober 1956 spitzten sich die Ereignisse im sowjetischen Machtbereich dramatisch zu. In Polen konnte man eine allgemeine Volkserhebung durch die Ernennung von Gomulka zum Generalsekretär der Partei gerade noch abwenden. Einige Tage später explodierte die Situation in Ungarn. Die Ereignisse sind oft geschildert worden, auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die DDR. Eine große Rolle in den wissenschaftlichen und literarischen Schilderungen dieser Monate spielt die Unruhe an den Universitäten der DDR. Es wird berichtet von stürmischen Studentenversammlungen, von Aufrufen zu Demonstrationen, die nur durch den massierten Aufmarsch von Kampfgruppen abgewendet werden konnten, von kritischen Intellektuellenzirkeln, von Diskussionen über einen demokratischen und humanen Sozialismus, von der Hoffnung auch vieler SED- Mitglieder auf eine solche Entwicklung, schließlich sogar von Flügelkämpfen innerhalb der Parteiführung. Die Verhaftung und Verurteilung von Wolfgang Harich und anderen jungen Intellektuellen fand eine ausführliche Darstellung in der damaligen Publizistik. Viele der Beteiligten haben später die Ereignisse in Memoiren und Erinnerungsbüchern verarbeitet. So bleib dieser Teil der Geschichte von Opposition und Widerstand über Jahre hinweg im öffentlichen Bewußtsein präsent.

Auch die Geschichtsschreibung hat sich vorrangig mit der intellektuellen und parteiinternen Opposition dieser Zeit beschäftigt. In bezug auf die Entstalinisierung heißt es bei Dietrich Staritz in seiner Geschichte der DDR: „Die Arbeiter nahmen von diesen Debatten kaum Notiz. Von der Wirtschaftspolitik der SED seit 1953 eher begünstigt, durch die Erinnerung an die Juni-Niederlage nur wenig motiviert, von der Intelligenz durch deren Privilegien getrennt, kamen Kontakte nicht zustande.“ Im gleichen Zusammenhang schreibt der Autor: „Anders als in Polen und Ungarn..., wo die Stalin-Kritik bald alle Gesellschaftsschichten bewegte..., blieb sie in der DDR zunächst ein nahezu isoliertes Überbauphänomen.“ Auch Christoph Kleßmann äußert sich ganz ähnlich: „Da die Arbeiterschaft — anders als in Polen und in Ungarn — ruhig blieb und das Regime durch seine Betriebskampfgruppen für eine Demonstration der Stärke sorgte, entwickelte die Situation in der DDR nur eine geringe Brisanz.“ Eine Ausnahme bildet nur Karl Wilhelm Frickes materialreicher Band Politik und Justiz in der DDR. Dort wird neben den Prozessen gegen sogenannte Revisionisten auch ausführlich der Versuch einer Gruppe Jugendlicher dokumentiert, im November 1956 in Dresden einen Verkehrsarbeiterstreik zu organisieren. Natürlich wurde dieser Versuch im Keim erstickt; er endete für die sieben Jugendlichen mit harten Zuchthausstrafen. So dilettantisch derartige Unternehmen in Angriff genommen wurden und so traurig es war, daß sie scheiterten — schon allein die Tatsache, daß der Fall in der Dresdner Lokalpresse ausführlich dargestellt wurde, ist ein Hinweis darauf, daß man seitens der Parteiführung auf eine abschreckende Wirkung Wert legte. Denn ungewöhnlich für die Situation im Herbst 1956 war die Aktion der Dresdner Jugendlichen keineswegs.

Neben den ausführlichen Berichten über die Unruhe an nahezu allen Universitäten der DDR, neben den Hinweisen auf Diskussionen unter Intellektuellen und Parteifunktionären finden sich in den Akten des MfS zahlreiche Informationen, die sich auf die Stimmung unter den Arbeitern in Industrie und Landwirtschaft beziehen. Es wird im Sommer und Herbst 1956 zunehmend von Streiks und Streikdrohungen, von Flugblattaktionen in Betrieben und nächtlich angebrachten Aufrufen berichtet. Spätestens seit den Ereignissen in Poznan ging auch in der DDR das Gespenst eines allgemeinen Volksaufstandes wieder um. So heißt es in einer MfS-Information vom 21. Juni 1956: „Es werden vorwiegend in Industriebetrieben... gedruckte Flugblätter ausgelegt, Hetzlosungen angeschmiert und feindliche Argumente weitergegeben, die auf den Einfluß westlicher Rundfunkstationen hinweisen.“

Der 17. Juni — ein Trauma

Der Informationsbericht stellt ausdrücklich den Zusammenhang zu der beginnenden Entstalinisierung her, wenn er auch die Verantwortung für die Unruhe in gewohnter Manier westlichen Agentenzentren zuschiebt: „Die feindliche Argumentation stützt sich in erster Linie auf die Kritik am Personenkult, auf die Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit — sogenannte Rechtsstaatlichkeit — und auf ökonomische Fragen in Industrie und Landwirtschaft. Der Gegner nutzt diese Umstände zu dem Versuch, einen Schlag gegen die Ideologie des Marxismus-Leninismus zu führen.“ Zusammenfassend meint der Bericht: „In der Deutschen Demokratischen Republik gibt es noch eine Reihe von Umständen in Wirtschaft und Verwaltung — vor allem in der Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern —, die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung hervorrufen und eine provokatorische Ausnutzung durch gegnerische Elemente ermöglichen. Es treten teilweise dieselben Schwerpunkte wie im Juni 1953 auf.“

Wie ein tiefes Trauma durchzieht der 17. Juni alle diese Berichte. Die beiden folgenden Beispiele sind, obwohl sie eher in den Bereich historischer Kuriositäten gehören, dafür symptomatisch. Da es sich herumgesprochen hatte, daß die Idee zu dem Streik der Bauarbeiter der Stalinallee vom 16. Juni 1953 zum ersten Mal während einer sonntäglichen Dampferfahrt wenige Tage vor Ausbruch der Unruhen besprochen wurde, waren für das MfS betriebliche Dampferfahrten ein neuralgischer Punkt. Angesichts des Herannahens des inkriminierten Datums ließ man sich Listen anfertigen über alle Betriebe, die für diesen Sonntag Dampferfahrten gebucht hatten. So konnte der sorgengeplagte Minister für Staatssicherheit bereits am 14.Juni 1956 erfahren, daß beispielsweise die 120 Mitarbeiter der Trabrennbahn Karlshorst den Plan gefaßt hatten, am 17. Juni mit dem Ausflugsdampfer „La Paloma“ ins Blaue zu fahren. Der Kammerchor Treptow hatte vor, den Sonntag für eine Dampferfahrt nach Alt-Buchhorst zu nutzen, und die katholische Pfarrgemeinde Buch hatte zum gleichen Termin das Motorschiff „Delphin“ gechartert, um der beliebten Ausflugsstätte „Ziegenhals“ einen Besuch abzustatten. Man kann sich vorstellen, wie an jenem Sonntag die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes ausschwärmten, um die Ausflugslokale der Berliner Umgebung „operativ abzusichern“.

Auch die Kleingartenkolonie „Grüne Aue“ im Berliner Stadtbezirk Köpenick gab Anlaß zur Sorge, zumal — wie berichtet wird — im Vorstand lediglich ein einziger Genosse war, sonst aber „nur negative Personen“. Die Kleingärtner sollten ihr Gelände zum Zwecke des Wohnungsneubaus räumen, was begreiflicherweise auf wenig Begeisterung stieß. Nun hatte man zu diesem Thema eine Versammlung der Kleingartensparte einberufen, und zwar „provokatorischerweise“ zum 17. Juni. „Als der Genosse L.“, die erwähnte einzige Bastion der Partei im Vereinsvorstand, „auf die politische Tragweite des 17. Juni aufmerksam gemacht wurde, erklärte dieser, daß er daran gar nicht mehr gedacht habe.“ In welcher Form Genosse L. zur Verantwortung gezogen wurde und auch den weiteren Verlauf der Ereignisse um die Kolonie „Grüne Aue“ verschweigt der Bericht. Insgesamt jedenfalls verlief der dritte Jahrestag des Aufstandes vom 17.Juni in sonntäglicher Ruhe. Bei der Lektüre solcher Berichte stellt sich erneut die Frage: Sind sie Produkt eines paranoiden Sicherheitswahns oder Ausdruck der realen Lageeinschätzung?

„Versorgung mit HO-Butter ist schlecht“

Immerhin gab es im Sommer 1956 für die SED-Führung ausreichend Grund zur Sorge. Seit dieser Zeit scheinen sich Versorgungsprobleme gehäuft zu haben. Am 30. Juni 1956 wird von der Staatssicherheit eine ausführliche „Analyse zur Versorgungslage“ angefertigt. In dieser Analyse dominieren deutlich die negativen Erscheinungen. So wird berichtet: „In den Bezirken Rostock, Neubrandenburg, Schwerin, Cottbus, Frankfurt/Oder, Potsdam, Magdeburg, Halle, Leipzig, Karl- Marx-Stadt und Gera besteht erheblicher Mangel an HO-Butter und HO-Magarine. Besonders schlecht ist die Versorgung im Bezirk Schwerin, wo die Lage äußerst gespannt ist und einer schnellen Änderung bedarf. Bei der Auslieferung dieser Waren kommt es vor den Geschäften zur Schlangenbildung sowie negativen Diskussionen und Empörung unter der Bevölkerung. Die Bezirke klagen darüber, daß die Kontingente bei weitem nicht ausreichen und zum Teil wesentlich niedriger liegen, als sie zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr lagen... Dadurch kommt es auch vielfach unter Arbeitern zum Beispiel zu solchen Diskussionen, daß sie immer schwerer arbeiten müßten und trotzdem mit Marmeladestullen zur Arbeit gehen müßten. Die Hausfrauen sagen dann, daß sie, wenn sich die Lage nicht bald ändern werde, nicht mehr wüßten, was sie ihren Männern auf das Brot streichen können.“

Zur gleichen Zeit häufen sich Berichte über Arbeitsniederlegungen. Es geht dabei, zumindest vordergründig, um rein wirtschaftliche oder innerbetriebliche Probleme. In allen Fällen dauerten diese Streiks nur wenige Stunden, und es waren im Höchstfalle einige hundert Arbeiter beteiligt. Als charakteristisch kann folgender Bericht vom 29. Juni 1956 gelten: Im Hafen Brandenburg führten zwölf Arbeiter einen einstündigen Sitzstreik durch. „Der Anlaß dazu war, daß die Hafenarbeiter an den Gleisen Pflegearbeiten für Bezahlung im Stundenlohn ablehnten. Die Ursache, daß es zu diesem Sitzstreik kam, war, daß einer der Arbeiter aus Brandenburg aufgewiegelt hat und die anderen Arbeiter ansprach, in den Sitzstreik zu treten. Bis auf einen Arbeiter sind alle dieser Aufforderung nachgekommen.“

(aus: „Politik und Zeitgeschichte“ B5-91 vom 25.1.1991)

Fortsetzung und Schluß am 2.5.

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