: Kreuzberger 1.-Mai-Mythos neu aufgelegt
■ Im Vergleich zu den Vorjahren relativ wenige Verletzte und geringe Sachschäden/ Stadtweit waren 4.500 Polizisten im Einsatz
Berlin (taz) — Ein größeres Polizeiaufgebot und mehr Festnahmen, weniger verletzte Polizisten und Sachschäden als in den Jahren zuvor — das ist die Bilanz der diesjährigen 1.-Mai-Nacht in Berlin-Kreuzberg. Die geringeren Verwüstungen schrieben Innensenator Heckelmann (CDU) und die Polizei gestern sogleich dem „stets konsequenten und zugleich mit Augenmaß vorgetragenen Einsatz“ der Polizei zu.
Zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen war es bereits am späten Mittwoch nachmittag im Anschluß an eine „revolutionäre 1.-Mai-Demo“ gekommen. Nachdem über 10.000 Menschen weitgehend friedlich durch Kreuzberg und Friedrichshain im Ostteil der Stadt gezogen waren, flogen nach der Abschlußkundgebung Steine und Feuerwerkskörper; die Polizei ging mit Tränengas gegen die Menge vor.
Das darauffolgende, traditionelle Straßenfest auf dem Lausitzer Platz in Kreuzberg endete vorzeitig. Den Auftakt der gewalttätigen Ausschreitungen gaben mehrere Dutzend türkische und deutsche Jugendliche, die am Rande des Festes Polizeibeamte mit Steinen und Flaschen angriffen. Ohne Vorwarnung räumte die Polizei daraufhin mit Tränengas und Wasserwerfern den Festplatz, auf dem sich zu diesem Zeitpunkt mehrere tausend Menschen, darunter auch viele Kinder, befanden.
Bis spät in die Nacht kam es immer wieder zu Scharmützeln. Auffällig war, daß kaum Schaufenster zerstört und keine Autos angezündet wurden. Die Schäden seien „vergleichsweise gering“, sagte der Kreuzberger Bürgermeister Günter König zur taz. Im Gegensatz zu den Vorjahren wirkte der Einsatz der Polizei äußerst gezielt; die Beamten waren flächendeckend im ganzen Kiez präsent und verfolgten mutmaßliche Straftäter bis in die Hinterhöfe. Mehrere Kneipen wurden von der Polizei zum Teil gewaltsam geräumt. In einem Fall traktierten sie sogar die an den Tischen sitzenden Gäste mit Schlagstöcken, fegten Gläser von den Tischen und kippten Möbel um. Auch ein Kameraassistent eines ZDF-Teams wurde dabei zu Boden geschlagen.
Polizeipräsident Georg Schertz äußerte sich gestern zu diesen Vorfällen nicht. Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer seien „nur dort eingesetzt worden, wo es unbedingt notwendig war“, behauptete er. Stadtweit waren nach Informationen der taz 4.500 Beamte im Einsatz, davon 3.100 in den Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain — deutlich mehr als im Vorjahr. Die Polizei nahm insgesamt 181 Menschen fest, neun wurden gestern dem Haftrichter vorgeführt. Nach Polizeiangaben wurden 87 Beamte verletzt, im Vorjahr waren es 233. Auch auf seiten der Demonstranten gab es zahlreiche Verletzte, Zahlen waren gestern nachmittag noch nicht bekannt.
Der Innensenator erklärte, es habe sich bewährt, der Polizei „nicht in das Handwerk hineinzupfuschen“. Die oppositionelle AL verurteilte die Gewalttaten in Kreuzberg, bezeichnete es aber angesichts der geringen Schäden als „um so unverständlicher“, daß die Polizei eine Neuauflage der „Knüppel-aus-dem- Sack-Politik“ gewählt habe. H.-M. Tillack/M. Habersetzer
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