: Attacke und Mahnung
■ Die neue Enzyklika des Papstes ist doppelgesichtig
Attacke und Mahnung Die neue Enzyklika des Papstes ist doppelgesichtig
Denen, die nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Regimes in Osteuropa den real existierenden Kapitalismus als alternativlos und als Ende der Geschichte proklamierten, ist in der neuen Enzyklika Jan Wojtylas eine barsche Lektion erteilt worden. Der Papst attackiert in Richtung Westen und mahnt in Richtung Osten. Das kapitalistische System — der Begriff wird ganz unbefangen verwendet — tendiert nach wie vor, wenn es nicht vom Sozialstaat und einer ihn tragenden Arbeiterbewegung temperiert wird, zur Ausbeutung, spaltet die Gesellschaft und produziert Entfremdung. Ausschließliche Profitorientierung führt zur Ressourcenverschleuderung, Armut in weiten Teilen der Welt und Naturzerstörung. Die neu etablierten Machteliten in Osteuropa ermahnt der Papst, nicht dem Glauben zu verfallen, die freie Entfaltung der Marktkräfte werde alle Probleme lösen. Leszek Balcerowicz und Vačlav Klaus werden diese unzeitgemäßen Betrachtungen mit Mißmut zur Kenntnis nehmen. Sie liegen quer zu ihrem liberalen Credo wie zu den Roßkuren, die sie ihren Ökonomien verschreiben.
Wie alle politischen Äußerungen des Papstes ist auch die neue Enzyklika doppelgesichtig. Sie sieht im Christentum die einzige Instanz, die dem Sinn- und Identitätsverlust in der westlichen Welt entgegenwirken könnte, wie sie auch das Scheitern des Kommunismus letztlich aus dessen Mangel an Transzendenz erklärt. Dieses angemaßte und — gemessen an der Entwicklung der Moderne — zum Scheitern verurteilte Sinngebungsmonopol ist gleichzeitig politisch reaktionär. Es dient der Konservierung einer patriarchalischen Ideologie und verhindert, was es doch eigentlich herbeiwünscht: die Entfaltung freier Subjektivität. Andererseits wird in der Enzyklika die Lehre von der Würde des arbeitenden Menschen fortgeschrieben und radikalisiert. Eigentum rechtfertigt sich nur in dem Maße, indem es Arbeit schafft und die Arbeitsbedingungen humanisiert. In Übereinstimmung mit dem Marxismus betont der Papst die Zentralität der Arbeit für die menschliche Existenz, aber in denkbar schroffstem Gegensatz zu ihm glaubt er an den „dialogischen“ Charakter der Arbeit, an die jedem Arbeitsprozeß innewohnenden schöpferischen Potenzen.
Es ist dieser Glaube an die Würde der Arbeit, der Solidarność 1980/81 zu einem so unwiderstehlichen Siegeszug verhalf. Die jetzt wiederaufgenommene „Botschaft“ hat sich — zumindest in den katholischen Teilen des östlichen Europas — noch nicht verbraucht. In der Auseinandersetzung mit den allgegenwärtigen Fetischen Markt und Nation könnte sie ein zweites Mal geschichtsmächtig werden. Christian Semler
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