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A poet from down under

Die Autobiographie von Janet Frame  ■ Von Ayala Goldmann

Heute ist sie Neuseelands bekannteste Schriftstellerin. Ihre Biographie wurde zur Legende, man verlieh ihr alle neuseeländischen Literaturpreise und den Autorenpreis des Commonwealth, nannte sie eine Meisterin der englischen Sprache — aber bis jetzt hat niemand ihr Werk ins Deutsche übertragen. Janet Frame, in der Kleinstadt Dunedin im südlichen Teil der Insel geboren und heute 66jährig, wurde in Deutschland etwas bekannter, nachdem die Verfilmung ihrer Autobiographie in einigen wenigen Kinos und auf der Berlinale zu sehen war. An Angel At My Table (1990) ist die dreistündige Hommage der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion an die Schriftstellerin Janet Frame. An Angel At My Table heißt das mittlere Stück ihrer Autobiographie, erschienen 1984 (der erste, To The Is-Land wurde 1982 publiziert, der letzte Band, The Envoy From Mirror City, ebenfalls 1984).

Janet Frames Leben war ungewöhnlich, aber die außergewöhnliche Souveränität, mit der sie über sich schreibt, erstaunt fast mehr als ihre Geschichte. Als Tochter eines Bahnarbeiters und einer Mutter, die vier weitere Kinder zu versorgen hat und vor der familiären Sklaverei in die Welt der Poesie flieht (sie träumte davon, Gedichte zu veröffentlichen), wächst Janet Frame in einem kleinen Häuschen in der Kleinstadt Oamaru auf. Ihre älteste Schwester ertrinkt, als Janet acht Jahre alt ist. Der Bruder leidet an Epilepsie. Janet erlebt alptraumhafte Nächte, in denen die Eltern vergeblich versuchen, den Bruder „zur Vernunft zu bringen“. Sie erlebt, wie ihr Bruder in der Schule isoliert wird, und auch sie steht am Rand, rothaarig, schüchtern, einzelgängerisch. Sie quält sich mit ihrer Periode und der zu engen Schuluniform, durch die sich das grobe Handtuch abzeichnet. Sie wächst in der Prüderie der dreißiger und vierziger Jahre auf, in einer Unwissenheit und Unschuld, die nur die Nachgeborenen rührend finden, in einer Gesellschaft, die zur Konformität zwingt. Sie erinnert sich an den Einfluß von deutschem Faschismus und europäischem Kolonialismus auf Neuseeland, das „down under“, ab vom Schuß liegt: „There was much talk at school of eugenics and the possibility of breeding a perfect race. Intellegence tests became fashionable, too, as people clamed to find themselves qualified for the ,perfect race‘ and to find others who were not so qualified.“

Aber Janet Frame beschreibt keine „unglückliche, traumatische Kindheit“. Kindheit ist das Leben mit den Geschwistern in einer kleinen, verschlafenen Stadt, Spielen auf der Straße, die Liebe zu Neuseelands Flüssen und Bergen, die Gegenwart des Is-Lands. Sie beschwört weder sentimentale Erinnerungen noch klagt sie an. Sie beschreibt. Alle drei Schwestern schrieben Gedichte. Janets Interesse für Posie ist keine Flucht: „It was not an escape in the sense of the removal from the unhappiness I felt over the sickness at home or from my own feeling of nowhereness in not having ordinary clothes to wear. (...) There was no removal of myself and my life to another world, there was simply the other world's arrival into my world...“ Die Posie, die Janet in der Schule kennenlernt, ist britisch-shakespearianischer Herkunft. Nur am Rand streift sie die neuseeländische Literatur, die damals — mit wenigen Ausnahmen — kaum beachtet wurde. Erst 1945 gab der Schriftsteller und spätere Mentor Janet Frames, ihr „Engel“ Frank Sargeson, die Anthologie Speaking For Ourselves heraus. Für-sich- selbst-Sprechen wird zu einer immer wiederkehrenden Metapher in Janet Frames Autobiographie — eine eigene Sprache finden, eine Sprache, die immer auch das Englisch des Is- Lands ist.

Janet Frame braucht mehr als ein Jahrzehnt, um ihre Sprache und ihre Stimme zu finden. Sie beginnt schon als Schülerin, Gedichte zu schreiben, aber ihre Eltern suchen ihr einen Brotberuf aus. Janet notiert trotzig in ihr Tagebuch: „They think I am going to be a schoolteacher, but I am going to be a poet.“ Aber die schüchterne, unsichere Studentin, der ihr Studienort Dunedin wie eine unheimliche, bedrohliche Großstadt erscheint, hat nicht gelernt, sich dagegen zu wehren, daß man ihr Leben verplant. Sie veröffentlicht The Lagoon And Other Stories, aber bemüht sich verzweifelt, eine gute Lehrerin zu werden. Sie scheitert. Bei der Lehrprobe flüchtet sie: „I was walking out of the school, knowing that I would never return.“ Sie will sich mit Aspirin vergiften und landet im psychiatrischen Krankenhaus von Dunedin. Damit beginnt ihre achtjährige Odyssee durch verschiedene Anstalten: Janet wird (obwohl keine Rede davon sein kann) für schizophren erklärt. Was durch eine Reihe von Gesprächen, eine gute Freundin, einen verständnisvollen Dozenten bewältigt werden könnte, führt zur Ausbürgerung aus der menschlichen Gemeinschaft. Mit Verständnis und Einfühlung beschreibt die 60jährige Janet Frame eine 20jährige, die ihre Diagnose benutzt, um ihren einzigen Ansprechpartner, den Dozenten John Forrest, zu beeindrucken. Der zeigt sich zwar beeindruckt („When I think of you, I think of Van Gogh, of Hugo Wolf...“), aber ohne Verständnis, und so leistet Janet Frame — ungewollt — ihrer eigenen Ausbürgerung Vorschub: „I was an ordinary grey-feathered bird flashing one or two crimson feathers at the world, adapting to suit the occasions of life. In my childhood I had displayed number riddles, memorizing long passages of verse and prose, mathematical answers; now, to suit the occasion, I wore my schizophrenic fancy dress.“

Ihre Erfahrungen mit Irrenanstalten hat Janet Frame in ihrem Roman Faces in The Water (erschienen 1961) verarbeitet — einer detaillierten Beschreibung und Analyse von Herrschaftsverhältnissen und Folter durch Elektroschock-„Therapie“. Faces in The Water ist der Versuch, aus autobiographischem Material einen fiktiven Roman zu gestalten. Der Roman ist ein beeindruckendes Dokument von Grausamkeit, Beobachtungsgabe und der fast unendlichen Leidensfähigkeit seiner Protagonistin, ist aber in Anfang und Ende nicht ganz stimmig. Janet Frame schreibt ihrer Figur Istina Mavet Charakteristika eines Wahns zu, benutzt aber im wesentlichen die eigene Geschichte für die Rahmenhandlung. Da sie aber weder erklärt, warum Mavet eingewiesen wurde, noch warum ihr die drohende Gehirnoperation erspart blieb, steht die Erzählung ohne Erklärung wie ein nicht ganz zu Ende bearbeiteter Stein (von allerdings hervorragender Qualität) im Raum. Im dritten Teil ihrer Autobiographie erzählt Janet Frame, wie sie von Lesern und Rezensenten jahrelang für die wahnsinnige Istina Mavet gehalten wurde. Tatsächlich entrann sie der Leukotomie nur deshalb, weil sie kurz vor dem anberaumten Termin Preisträgerin des Hubert Church Award für ihr Buch The Lagoon And Other Stories wurde. „It is little wonder that I value writing as a way of life when it actually saved my life.“

Sie wurde entlassen, lebte eine Zeitlang bei dem Schriftsteller Frank Sargeson, der sie ermutigte und förderte, und ging danach für einige Jahre nach London, wo sie mit Hilfe von Freuden und Ärzten ihren „way of life“ bestimmte. Aber schließlich kehrte sie nach Neuseeland zurück, eingedenk der Wortes ihres Freundes Sargeson: „Remember you'll never know another country like that where you spent your earliest years. You'll never be able to write intimately of another country.“

Es gibt viel Faszinierendes in dieser Autobiographie. Zum einen ist es Janet Frames Umgang mit sich selbst, ihre Fähigkeit, sich in die damals Fünfjährige genauso hineinzuversetzen wie in die Dreißigjährige. Sie zeigt ihren Lesern, wie ein Kind, das nicht weiß, ob ein Gedicht „gut“ oder „schlecht“ ist, von Reim und Rhythmus eines Volkslieds begeistert wird und so seinen Sinn für Literatur entwickelt. Ihr Verhältnis zur Lyrik ist freundschaftlich, und in ihrer Einsamkeit fühlt sie sich mit den Dichtern verbunden: „They may not have known but they were company for me, their very breath kept me warm and dispelled my grief.“ Sie ist sich aber auch der Gefahr durch Selbsttäuschung und Selbstblendung durch die Posie bewußt. Janet Frame und der erste Mann ihres Lebens, den sie mit 32 Jahren auf Ibiza kennenlernt, rezitieren sich gegenseitig lange Gedichte, um die Atmosphäre einer wahren Liebe zu schaffen, die nicht länger währt als der spanische Sommer: „I listened with polite attention, snobbishly aware that my poets were ,better‘ than his, and wishing he would quote long passages of Yeats as I tried to preserve my image of his perfection...“ Um den Lesern ihre Auffassung vom Schreiben zu erklären, zitiert sie Camus: „Leben ist etwas Gegensätzliches zu Sich- Äußern. Wenn ich den großen toskanischen Meistern glauben soll, bedeutet es, ein dreifaches Zeugnis abzulegen, in Schweigen, Flammen und Unbeweglichkeit.“

Janet Frame beendet ihre Autobiographie mit ihrer Rückkehr nach Neusseland, sie hört zum Schluß auf die Stimme, die sie warnt, Leben zu früh in Geschichte zu verwandeln: „Take care. Your recent past surrounds you, has not yet been transformed. Do not remove yet what may be the foundation of a palace in Mirror City.“

Janet Frame: An Autobiography . The Women's Press, London 1990

Janet Frame: Faces in the Water . The Women's Press, London 1980

Der Film Jane Campions über das Leben Janet Frames, An Angel At My Table , ist in wenigen deutschen Kinos bereits zu sehen. Eine Kritik des Films und ein Interview mit Jane Campion erscheinen zum Berliner Filmstart am 23.Mai.

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