: Die Atombombe als ziviler Großindustrieller
■ In der Sowjetunion gab es über 110 Atomsprengungen für sogenannte friedliche Zwecke. Erst jetzt wird der Blick auf die Folgen frei: Verseuchungen ungeahnten Ausmaßes. Noch heute leben und...
Die Atombombe als ziviler Großindustrieller In der Sowjetunion gab es über 110 Atomsprengungen für sogenannte friedliche Zwecke. Erst jetzt wird der Blick auf die Folgen frei: Verseuchungen ungeahnten Ausmaßes. Noch heute leben und fischen Menschen an Strahlenseen, kochen und heizen mit verstrahltem Gas und essen radioaktives Fleisch.
Die Atomforscher der fünfziger Jahre waren diesseits und jenseits des Atlantiks optimistisch, was die Einsetzbarkeit von Atomsprengköpfen für zivile Zwecke angeht. Wie Adenauer die Atomwaffen als bessere Artillerie ansah, sahen sie im Atomsprengstoff eine Weiterentwicklung konventionellen Sprengstoffs zur quasi-industriellen Nutzung.
„Zivile“ Atombomben wurden nicht nur in der Sowjetunion gezündet, aber in der Sowjetunion verhindern Geheimhaltung und Polizeistaat selbst rudimentärste Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung — von Information gar nicht zu reden. Wurden in den USA 140.000 Menschen von solchen radioaktiven Wolken betroffen, so wurden und werden in der UdSSR Millionen Menschen Opfer stärkerer Verstrahlung.
Bis vor drei Jahren ließ die Regierung zu „zivilen Zwecken“ atomar sprengen, bestätigte 'Prawda‘-Chefredakteur Wladimir Glubarjew. Erst langsam tauchen die grauenhaften Folgen solcher Projekte auf. Wie viele kleine und große Tschernobyls dabei letztlich ans Tageslicht kommen werden, weiß heute keiner.
Eine amerikanische Zeitschrift berichtet von mindestens 110 solcher zivilen Atombomben, die Leukämie und Anämie, Krebs und Mißbildungen über die Menschen in der Sowjetunion gebracht haben. Preston Truman konnte fünf Wochen in der Sowjetunion frei reisen und recherchieren. Er arbeitet in den USA für die sogenannten „downwinders“: Menschen, die in der strahlenden Fahne der amerikanischen Atomtests leben und sterben. Sein Bericht über den „Horror der sowjetischen Steppen“ in 'Acasia‘, dem Newsletter der Vereinigung für Zentralasiatische Studien, sprengt die Vorstellungskraft. Die sogenannten zivilen Tests in der UdSSR sollten Seen und Kanäle schaffen, Flußläufe verändern und bei der Rohstofförderung helfen— tatsächlich haben sie die Lebensgrundlagen von Teilen der Bevölkerung unwiederbringlich verseucht. Noch heute werden Fische aus strahlenden Seen geangelt, und Schafe weiden am Explosionsort.
In Orenburg im Ural wurde nach Trumans Recherche ein Gasreservoir mit mehreren von insgesamt 18 in der Region gezündeten Atomsprengköpfen herbeigebombt. Und in Astrakhan nördlich des Kaspischen Meeres halfen die Gasbohrer sogar mit 36 Atombomben dem Gasstrom und der Schaffung von unterirdischen Gasspeichern nach. Solche Sprengungen sollen auch bei verschiedenen anderen Öl- und Gasvorkommen eingesetzt worden sein. „Große Teile der sowjetischen Öl- und Gasförderung sind verdächtig“, so Truman.
Der Biologe und Chemiker Kurt Schefczik, der in Wiesbaden das Büro für Ökologie und Umweltforschung leitet, geht davon aus, daß in diesen Speichern zumindest radioaktive Edelgase wie Radon, Kryton und Xenon in das Erdgas übertreten. Das Problem sei ihm aber völlig neu. Von wissenschaftlichen Analysen oder Untersuchungen der Gasunternehmen weiß Schefczik nichts.
Das Gas, das im Orenburger Speicher gelagert wird, bevor es in der nahe gelegenen weltgrößten Naturgasraffinerie verarbeitet wird, ist also radioaktiv kontaminiert — unklar ist lediglich, wie stark. Von Orenburg laufen Pipelines mit der „strahlenden Energie“ über die gesamte Sowjetunion und bis nach Westeuropa. Und dort wird es in den Haushalten zum Kochen und Wärmen verfeuert.
Vor Ort in der Sowjetunion sind die Folgen der Sprengung schon heute grausig evident. Truman und seine Crew besichtigten in Kasachstan den Krater von „Sprengung 1004“. Am 15. Januar 1965 sollte südwestlich von Semipalatinsk am Zusammenfluß zweier kleiner Flüsse das industrielle Potential atomarer Sprengungen bewiesen werden. Der 125-Kilotonnen- Sprengsatz (10mal so stark wie Hiroschima) wurde damals 200 Meter unter der Oberfläche gezündet, berichtet Truman. So enstand ein Krater von 600 Metern Durchmesser und 100 Metern Tiefe. An dem einen Ende habe sich eine gigantische Geröllmauer als Stauwehr aufgerichtet, mit der die beiden kleinen Flüsse jetzt zu einem 18 Kilometer langen See gestaut werden. Die Behörden setzten drei Fischarten aus, die zur Ernährung der Bevölkerung dienen sollten. „Wir filmten Soldaten und Lokalbewohner an diesem Bombenkrater beim Fischen fürs Mittagessen“, so Truman. In der vergangenen Woche hatte 'Prawda‘-Chefredakteur Gubarjew die Existenz eines solchen Sees bestätigt: In dem See könne man fünf Kilo schwere Karpfen fangen, und die würden ständig überwacht.
Truman hat in der Nähe des Sees eine Kolchose besichtigt, auf der Wassermelonen für die gesamte Region gezogen werden. Eine Pferde- Kolchose produziert Fleisch und Milch für die Gegend. In Pflanzen und Tieren akkumuliert sich die radioaktive Verseuchung der Umgebung. Der Mensch als letztes Glied der Nahrungskette nimmt das konzentrierte, strahlende Gift zu sich.
Das dem Atomsee nächstgelegene Dorf in Windrichtung hat 3.500 Einwohner. Mindestens 32 Menschen starben dort innerhalb eines Jahres an Krebs, so Truman. 80 Prozent der Menschen leiden an Blutarmut. Kaum 15 Kilometer weiter wurden Schafe auf großen Sowchosen gezogen. Die Tiere hatten ihre Tränke an einem kleinen Teich. Auch dieses Wasserreservoir entstand durch „drei kleine Atomsprengungen“, mit denen die Sprengung von Kanälen getestet werden sollte. Der Krater hatte sich mit Grundwasser gefüllt. Und der Steppenwind trieb den staubigen Fallout über die Felder.
Die Überreste der „zivilen“ Atombomben sind nicht die einzigen Zeugen der atomaren Vergangenheit der Sowjetunion. 'Moskow News‘ berichtet ausführlich von der ersten sowjetischen Atombombenfabrik „Majak“, die im Jahr 1948 100 Kilometer von Tscheljabinsk gebaut wurde. Das Plutonium sei in die Bomben gegangen, der tödlich strahlende Müll ganz einfach in den Oberlauf des Flusses Tetscha. Die Bewohner der nahe gelegenen Kleinstadt Kasli und der Umgebung wurden nicht gewarnt, badeten weiter im Fluß und tränkten dort ihre Tiere. Erst drei Jahre später tauchten Militäreinheiten aus Moskau in den Dörfern am Fluß auf und versuchten, die Menschen zur Umsiedlung zu bewegen, so das Blatt. 'Moskow News‘ berichtet von 124.000 Verstrahlten, davon seien 28.000 stark belastet.
Sechs Jahre später kam es genau in dieser Fabrik zu der folgenschweren Atommüllexplosion im Ural, bei der 23.000 Quadratkilometer Land mit einer Bevölkerung von mehr als 270.000 atomar verseucht wurden. Noch immer ist der strahlende Fluß mit Stacheldrähten abgesperrt. Die Abwässer sollen zweimal soviel Radioaktivität enthalten, wie in Tschernobyl frei wurde. In den Müllbehältern, von denen einer im September 1957 platzte, lagern noch einmal 20 Tschernobyls. 23 Tonnen Plutonium, 500.000 Tonnen feste radioaktive Abfälle liegen an der Ufern der Tetscha, so die Zeitung. Eine halbe Milliarde Kubikmeter verseuchtes Wasser speichere eine künstliche Staukaskade am Oberlauf, mit der die Weiterverbreitung der strahlenden Fracht gestoppt werden soll.
Moskau steht ratlos vor diesem Erbe: Die Aufwertung der geschundenen Region durch ein gewinnbringendes Atomkraftwerk — diesen Einfall der Behörden haben die Menschen an der Tetscha abgelehnt. Hermann-Josef Tenhagen
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