: Im Fleischwolf der Norm
■ Eine neue Ausstellung im Museum für Verkehr und Technik informiert über die Normierung von Mensch und Maschine
Den Familien und Schulklassen, die täglich in kleinen Truppen das Museum für Verkehr und Technik stürmen, winkt seit wenigen Wochen schon am Eingang »Normo« von der Galerie aus zu. Mit Kurbeln, Pedalen, Zahnrädern und anderen Teilen der industriellen Massenproduktion der zwanziger Jahre ausgestattet, die ihm Knochen und Gelenke ersetzen, lockt der sterile Nachfahre von Frankensteins Monster ins Museum für Verkehr und Technik, in die neue Ausstellungsabteilung über die Normierung von Mensch und Maschine.
Im Hintergrund kracht die Revolverdrehbank, historisches Prunkstück, deren Betrieb vorgeführt wird wie die Fütterung der Löwen im Zoo. Dem Drehmoment der Maschinen entspricht die ästhetische Inszenierung der Warenfamilie der ersten Normengenerationen im Mittelpunkt der Ausstellung: Nähmaschinen und Fahrräder umkreisen verführerisch von Fleischwölfen gekrönte rotgoldene Postamente, an denen Gewehre wie Siegestrophäen lehnen. Dahinter beschleunigen rote Schubkästen voller Schrauben und »Normalien«, den Grundelementen des Maschinenbaus wie Griffe, Kurbeln, Stifte, Keile, Scheiben, Ringe und Kugelgelenke, den Pulsschlag jedes Heimwerkers.
In dieser Betriebsidylle schockt unerwartet eine Wand mit Fotografien von armlosen Kriegskrüppeln, die über künstliche Skelette aus Gelenken, Haken und Federn direkt an die Werkbänke angeschlossen sind. Davor lagern in vergitterten Vitrinen Prothesen, die den historischen Zusammenhang zwischen der Geschichte der Normierung und der Kriegstechnologie illustrieren. Texttafeln benennen den Ersten Weltkrieg als Anschubkraft für die Entwicklung der Normen, und dies gleich in doppelter Funktion: Die Konstruktion von Waffen und von Prothesen beschleunigte die Prozesse der Normierung. Die Berliner Firma Loewe, an deren Geschichte die Einführung der Normen exemplarisch ausgebreitet wird, produzierte praktischerweise beides. Ende des 19. Jahrhunderts sorgte ein »Mauser«-Gewehr, dessen 66 genormte Teile auf 66 simultan produzierenden Maschinen gefertigt wurden, für den Aufschwung der 1869 gegründeten Firma. Loewe- Mitarbeiter war auch Professor Georg Schlesinger, zugleich Leiter der 1915 gegründeten »Prüfstelle für Ersatzglieder«, der den »Germania- Arm« als kostengünstigen Ersatz für die weggeschossenen Glieder entwickelte. Die Forderung nach der zweckmäßigen Konstruktion von Prothesen resultierte aus den Versorgungsansprüchen des Heers der Teil- und Vollamputierten, von den Waffen des Ersten Weltkriegs verkrüppelt, die wieder arbeitsverwendungsfähig und damit von staatlicher Fürsorge unabhängig werden sollten. Die Ersatzglieder-Konstruktion wiederum verlangte eine analytische Zergliederung von Arbeitsprozessen und menschlicher Bewegung, die dann weiterhin als allgemeine Grundlage der Normierung von Handgriffen benutzt wurde. Ein augenfälligerer Zusammenhang zwischen industrieller Massenproduktion und dem Massenmord des Krieges ist kaum denkbar; ihn weiterzudenken, bleibt dem Besucher überlassen.
Schlesinger, der als Professor an der Technischen Hochschule Charlottenburg lehrte, entwickelte ebenfalls die Apparaturen der »Psychotechnik«, mit denen die Tauglichkeit der Arbeiter geprüft wurde. Diese bis heute üblichen Eignungstests lieferten, vergleichbar dem von dem Psychologen William Stern 1912 ermittelten Intelligenzquotienten, in ihrer wissenschaftlichen Objektivität scheinbar unangreifbare Daten. Sehschärfe, Gelenkigkeit, Tastsinn, Koordination von rechter und linker Hand: selbstverständlich darf sich der Besucher im haptisch orientierten Museum selbst an dem Zweihandprüfer erproben. Niedlich sind die kleinen Schaukästen anzuschauen, gebaut von der Theaterwerkstatt des MVT, in denen auf Knopfdruck Puppen drehend und kurbelnd die Berufseignungsprüfung vorführen. Schon ein winziger Filmausschnitt aus Chaplins Modern Times hätte mehr über die Anpassung des Menschen an die Maschinen und den Verlust seines eigenen Rhythmus verraten. Doch obwohl sich Ausstellungsmacherin Gabriele Wohlauf den Filmtitel für ihre Ausstellung lieh, beschränkte sie sich auf die Geschichte der Norm bis 1920; Chaplins Technikparodie aber beträfe erst die weitere Entwicklung der Fließbandtechnik.
Über die mechanisch agierenden Püppchen schiebt sich in meiner Vorstellung ein Bild aus einem Film von Meredith Monk über Ellis Island: Dort wurden in den dreißiger Jahren die Amerika-Einwanderer, unter ihnen viele emigrierte Juden, vermessen, untersucht und mit ähnlichen Tests auf ihre Arbeitsfähigkeit hin geprüft, bevor sie den fremden Kontinent betreten durften. Solche mit keiner Silbe in den Kommentaren gestreifte Assoziationen erweckt das ausgestellte Material nahezu bei jedem Blick: Eine kleine Schulecke, eingerichtet, um die führende Rolle von Loewe auf dem Gebiet der Lehrlingserziehung im Deutschen Reich zu dokumentieren, ist mit Fotografien des Betriebssports dekoriert, die die faschistische Ästhetisierung von Menschenmassen vorwegnehmen.
Bestückt mit Materialien aus dem Archiv der Firma Loewe, arbeitet die Ausstellung Firmengeschichte bis 1920 auf — eine Klärung ihrer Rolle im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg steht noch aus — und skizziert den Aufstieg von Schlesinger, der die Verflechtung von Wissenschaft und Industrie in einer Person verkörpert, zum Normenpapst: Entscheidend war auch seine Mitarbeit an der Verabschiedung der DIN- Norm. Die Texte enthalten sich der Wertungen und Reflexionen. Daß der physischen Normierung die der Psyche folgte, wie tief die Leistungsnorm Wertgefühl und Selbstbewußtsein des Menschen prägte und schließlich die kontinuierliche Überführung des normativen Blicks auf den Menschen in die tödlichen Maßstäbe der Rassenhygiene... — all das lauert unartikuliert hinter dem Dargebotenen und erzeugt berechtigtes Unbehagen. Die Beschränkung auf die Zeit bis 1920 wirkt wie ein Ausweichen vor den Konsequenzen des Normierungsgedankens.
Zudem bringt die sprachliche Beschränkung auf die Faktizität Konstruktionen hervor, in denen die Technik zum die Geschichte bewegenden Subjekt wird. Ökonomische und soziale Entwicklungen erscheinen als Effekt des technisch Machbaren.
Normengeschichte wird merkgerecht angeboten in kleinen Einheiten: die betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen der Massenproduktion kann der Lernwillige dann an den Fingern aufzählen. Welche Erfahrungsebenen und Fertigkeiten damit verlorengingen, bleibt ebenso ausgeblendet wie der Verschleiß des Arbeiters durch die Leistungsnormen.
Gabriele Wohlauf will mit dieser Ausstellung in den Besuchern ein Bewußtsein für die eigene Normierung wecken und die noch heute gültigen Eignungstests hinterfragen. Um die Technikfans gegen die Konkurrenz von Lokomotiven und Motoren zu ködern, hat sie das spröde Thema in der konkreten Geschichte einer Firma verankert. Doch ihr technikkritischer Ansatz droht in der objektbetonten Inszenierung zu versacken. Ihr Wackeln an der Basis der Gläubigkeit in die objektiven Daten der Wissenschaft fällt zu zaghaft aus.
Moderne Zeiten bildet allerdings erst den Anfang der Geschichte der Norm. Gabriele Wohlauf hofft nun, in chronologischen Kapiteln die Entwicklung der Norm von den mechanischen, noch sichtbaren Formen bis zur unsichtbaren, gentechnischen Anpassung verfolgen zu können. Katrin Bettina Müller
Moderne Zeiten — Normierung von Mensch und Maschine. Museum für Verkehr und Technik, geöffnet Di.-Fr. 9-17.30 Uhr, Sa. u. So. 10-18 Uhr.
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