In der Sicherheitszone kehrt Alltag ein

■ In der Stadt Al Amadiyah haben britische Marines nach Erfüllung ihres militärischen Auftrags damit begonnen, die Infrastruktur wiederaufzubauen

Kurden essen keine Frosties, auch keine Rice Crispies, auch keine Cornflakes. Der Bürgermeister von Al Amadiyah wirft die Kelloggs- Packung verächtlich wieder weg. Bei allem, was er sonst an den Amerikanern schätzt — der Container mit dem Frühstücks-Junkfood, der da in der ehemaligen Feuerwache zwischen Helmen, Löschgeräten, Mehlsäcken und Wasserkanistern steht, war völlig überflüssig.

Die Feuerwache ist das Allerheiligste von Al Amadiyah. Hier werden seit neun Tagen Lebensmittel, Kleidung und vor allem das so dringend benötigte Trinkwasser gelagert, bewacht und verteilt. Vor neun oder zehn Tagen — so genau weiß das Bürgermeister Rory Copinger Symes nicht mehr — rückte die britische Armee in die Stadt, die etwa 30 Kilometer von der irakisch-türkischen Grenze liegt, ein, mit dem Auftrag, Al Amadiyah für kurdische Flüchtlinge wieder sicher zu machen. Der militärische Teil war schnell erledigt: Mit Hilfe der wenigen Bewohner, die nach der Niederschlagung des Kurdenaufstandes noch geblieben waren, wurden die irakischen Geheimpolizisten ausfindig gemacht und per Laster aus der Sicherheitszone abgeschoben. Inzwischen sind 90 Prozent der ursprünglich 5.000 wieder zurückgekehrt. Rory Copinger Symes, Leutnant der Royal Marines, ist seitdem damit beschäftigt, die Wasserversorgung wiederaufzubauen und die Müllberge auf den Straßen zu beseitigen. Inzwischen ist das Krankenhaus wieder in Betrieb, und Symes läuft längst nicht mehr mit seinem Gewehr durch die Straßen, sondern mit einem Spazierstock. Seitdem ist der Brite faktisch Bürgermeister in Al Amadiyah. Ihn respektieren auch die Peschmerga, die für Symes die mittlere Verwaltungsarbeit übernommen haben. Sie registrieren zurückkehrende Flüchtlinge in einem großen schwarzen Buch und bemessen die Lebensmittelrationen.

Im Geschäftsviertel von Al Amadiyah sind inzwischen die ersten Händler zurückgekehrt, haben ihre von der irakischen Armee zertrümmerten Läden entrümpelt und wieder eröffnet. Auf der Straße werden wieder Zigaretten verkauft, im Teehaus wird laut und offen diskutiert — für und gegen Verhandlungen mit Saddam, und immer wieder kommt die alles beherrschende Frage an die Briten: „Wie lange bleibt ihr hier?“

So reibungslos der Wiederaufbau in Al Amadiyah auch zu funktionieren scheint: Die Lage wird schwierig, denn weiterhin treffen Flüchtlinge ein, die eigentlich woanders hinwollen: nach Dahok am südlichen Ende der Sicherheitszone.

„Keiner leidet Hunger oder Wassermangel“

Doch die Stadt, in der vor dem Einmarsch irakischer Truppen über 300.000 Menschen lebten, haben die Irakis bislang nicht geräumt. Zehntausende von Flüchtlingen haben sich zwar auf den Weg in die Sicherheitszone gemacht, campen nun aber auf halbem Weg und warten auf Nachricht aus Dahok. Rory Copinger Symes ist froh, daß er nicht mit den Amerikanern, die im Flüchtlingslager Cukurca den Nachschub organisieren, tauschen muß. Cukurca, knapp 25 Kilometer nördlich von Al Amadiyah, ist ein Alptraum — ein Alptraum mit einer Einkaufsstraße. Rund 100.000 Menschen leben hier seit Monaten in Zelten, unter Plastikplanen oder in Bretterverschlägen, die an die Berghänge gepreßt sind. Jetzt, bei Temperaturen um die 30 Grad, mischt sich der Gestank von Fäkalien mit dem Rauch von Lagerfeuern und den Dieselabgasen der Laster, die Versorgungsgüter vom Helikopterplatz der Amerikaner in das höhergelegene Camp bringen. Am Rande des größten Trampelpfades sitzen Hunderte von Jungen zwischen vier und sechzehn Jahren und bieten für ein paar Dinar an, was immer sich da aus dem Dorf auf türkischer Seite hochschleppen läßt: Coca Cola, Nüsse, Zigaretten, Gemüse, Teegläser, Datteln.

Wo immer zwischen den Zelten noch ein paar Quadratmeter frei sind, türmt sich der Müll — Plastikreste, Stoffetzen, Tierkadaver und immer wieder die Einheitspackungen der Notrationen, die man ihnen vor ein paar Wochen noch zugeworfen hat. „Der Anblick mag vielleicht abstoßend sein“, sagt ein junger US- Leutnant, „aber vor zwei Wochen war das hier zweihundert Prozent schlimmer. Jetzt leidet hier keiner mehr Hunger oder Wassermangel.“ Und trotz des Gestanks hat die Hitze einen Vorteil: Sie hat den knöcheltiefen Schlamm trockengelegt. Familien schicken Söhne oder Väter in die Sicherheitszone zurück, um auszukundschaften, was von ihren Häusern geblieben ist. Oft sind das nur die Grundmauern. Allein zwischen Zakho und Al Amadiyah soll die irakische Armee über 300 Dörfer in Trümmer geschossen haben.

Doch die meisten in Cukurca warten wie so viele auf Nachricht aus Dahok, ihrer Heimatstadt. Solange die Stadt nicht sicher ist, werden sie die Busse und Laster der Alliierten, die sie zurückbringen sollen, nicht betreten. „Wenn Dahok sicher ist“, sagt ein junger Kurde, der am Trampelpfad von Cukurca seine Zigaretten losschlägt, „gehe ich zurück. Aber erst müssen mir die Amerikaner schwören, daß die Bastarde weg sind.“ Womit das eigentliche Problem für ihn noch nicht gelöst ist. Denn: „Was passiert, wenn die Amerikaner wieder gehen?“ Andrea Böhm, Al Amadiyah