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Abseits von Eiern und Tomaten

■ Hallesche Tagung der Bürgerinitiativen für umweltfreundlichen Verkehr/ Wann wird Halle autofrei?

Halle. Während Helmut Kohl bereits das zweite Mal in Halle unvorbereitet in einen Eier- und Tomatenregen tauchte und die Schützen den Ruf Halles als deutsche Nach-Wende-Skandalstadt festigten, Ministerpräsident Gies einen Rüffel für seinen Innenminister mit nach Hause nehmen mußte (mangelnde Sicherheitsvorkehrungen) und das Bündnis90 wegen grundlosen Ausschlusses der Öffentlichkeit die Kanzlerbesuchs-Parlamentssitzung verließ, machten andere Hallenser den Thälmannplatz dicht (siehe taz, 13.5.), einen innerstädtischen Kreuzungspunkt von vier Bundesstraßen, der schon am Tag seiner Einweihung von Fachleuten als die verkehrsbauliche Fehlinvestition der Stadt erkannt wurde. 7.500 Kraftfahrzeuge und etliche Straßenbahnen pro Stunde sorgen für ein derartiges Chaos, daß selbst die für ihre Todesverachtung berühmten halleschen Radfahrer sich nur sehr selten über diesen Platz wagen. Am vergangenen Freitag ging dann um 10 Uhr nichts mehr. Unter aktiver Mithilfe der Verkehrspolizei füllten etwa 400 Radfahrer den Ring und ersetzten die sich dort üblicherweise stauenden Autos. Vehemente Proteste, wenig Gelassenheit bei den KFZ-Lenkern, um so mehr bei den zum Teil amüsierten Polizisten, die nicht mehr weiter wissen: Dies alte DDR-Lied „Keine Leute, keine Leute“ können sie um die Zeile „Kein Radargerät, kein Radargerät“ verlängern, „Kein Geld, kein Geld“ singen sie sowieso.

Wenig Geld auch bei den Bürgerinitiativen, dem Unabhängigen Institut für Umweltfragen, der IG Verkehrsökologie und der Grünen Liga. Wenig Geld, dafür aber sachliche und zukunftsorientierte Arbeit, deren Ergebnisse in einem Rahmenplan zusammengefaßt worden sind und am 16. Mai am Runden Tisch diskutiert werden sollen.

„Ein außerordentlich sachkundiges Papier“, findet Heiner Monheim (NRW-Stadt- und Verkehrsplaner), „das in solch einer Qualität eigentlich aus dem Magistrat kommen müßte“ — aber nicht kommt. Rolf Hörnig, Verkehrsplaner beim Magistrat, fühlt sich vom Verkehr „überflutet“ und ist ängstlich bemüht, der Autolobby nicht weh zu tun.

Seine offensichtlichen Schwierigkeiten beim Verstehen der im Verlauf der (von den Bürgerinitiativen organisierten) „Tagung für umweltfreundlichen Verkehr“ am Samstag vorgetragenen Zusammenhänge und der angebotenen Lösungsvarianten sollten ihn nicht allzu lange über den Rücktritt nachdenken lassen.

Joachim Lorenz und Werner Brög aus München sowie Dr. Hunger aus Dresden erläuterten in mehreren Vorträgen stadt- und verkehrsplanerische Aspekte vor den peinlich wenigen (100) Zuhörern, darunter eine knappe Handvoll Kommunalpolitiker. So hat Werner Brög herausgefunden, daß sich 70 Prozent der Münchner Einwohner vom Verkehr bedroht fühlen. „Die haben bestimmt nicht Angst, mit einem anderen Fußgänger zusammenzustoßen.“ Interessant auch die eindeutige Aussage, wonach in einer autofreundlichen Stadt die Mobilität sinkt. Also wieder nichts mit der großen Freiheit.

Alles Erkenntnisse, um deren Verständnis sich die Mehrheit der halleschen Politiker bisher erfolglos bemühte. Am 30. Juni soll die breite Öffentlichkeit mit dem ersten autofreien Sonntag in Halle wachgerüttelt werden. Der alltägliche Tiefschlaf allerdings, so muß vermutet werden, erfordert wahrscheinlich einen autofreien Montag. Aber vielleicht ist es ein Anfang, und Halle wird berühmt durch die erste autolose Innenstadt Deutschlands. Gerhard Mühlhausen

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